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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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höre zwar nicht auf zu weinen, bin aber etwas beruhigt. Zögernd löse ich mich von ihr. Plötzlich fühle ich mich ganz kraftlos, haltlos – wie eine Marionette, der man die Fäden abgeschnitten hat. Mamas Hände berühren mein Gesicht, sie haucht mir noch einen Kuss auf die Stirn. Dann zieht sie das Bein in den Innenraum des Fahrzeugs. Auch die wartenden Beamten steigen allesamt in die Autos.
    Nur die Frau vom Amt bleibt bei uns und hält uns an der Hand. Eigentlich wirkt sie jetzt ganz lieb. Die Türen schlagen zu. Die Motoren knattern. Die Reifen rattern über das Pflaster. Meine Mutter löst während der Abfahrt den Blick nicht von mir. Sie hat sich uns zugewandt und winkt uns zu, so gut sie das kann – mit den Handfesseln wirkt sie so unbeholfen, so entsetzlich hilflos. Es sticht mir ins Herz, sie davonfahren zu sehen, mit ihrem tapferen Lächeln, immer kleiner wird sie. Wie erstarrt bleiben mein Bruder und ich stehen, bis die Autos hinter dem großen Altbau an der Ecke verschwinden.
    Unsere Betreuerin eröffnet uns knapp: »Ich bringe euch jetzt zu eurer Oma.«
    Mir ist ganz flau. Ach Mama, wärst du doch noch hier! Was wollen diese bösen Männer bloß von dir? Ich kann die Tränen nicht länger aufhalten. Nur Mirko wirkt völlig unbewegt. Ich kann mich nicht erinnern, ihn weinen gesehen zu haben.
    Der Marktplatz, auf dem wir jetzt verloren zurückbleiben, ist unser Zuhause, der Raum zwischen den Bretterbuden, die für den Marktbetrieb aufgestellt werden, unser Spielplatz. Während Mirko mit geschlossenen Augen bis dreißig zählte, habe ich mich versteckt und verborgen gehalten. Aber wenn er sich dann auf die Suche machte, hat er mich noch jedes Mal auf Anhieb entdeckt. Mein Bruder und ich, wir kennen hier jeden Winkel. Mit Vorliebe klettern wir im Sommer auf den Rand des Simsonbrunnens und lassen uns von der Wasserfontäne aus dem weit aufgerissenen Maul des Löwen berieseln, der gerade von einem starken Steinmann besiegt wird.
    Um uns hat sich nie jemand groß gekümmert, Mama hat uns immer freien Lauf gelassen. Stundenlang haben wir auf den niedrigen Fensteröffnungen der alten Häuser um den Marktbrunnen gehockt und zugeguckt, wie die Brautpaare aus dem Standesamt gegenüber kamen. Manchmal sind wir auch hingelaufen, um ein paar Münzen einzufangen. Fröhliche Hochzeitsgäste in einem Regen aus Reis: So ist das wohl, wenn Mann und Frau noch zusammen sind – anders als bei uns, von meinem Papa weiß ich schlichtweg nichts.
    Der gepflasterte Weg von hier bis zur Wohnung unserer Oma oberhalb des Marktplatzes ist nicht weit, zu Fuß gerade einmal zwei Minuten. Unzählige Male sind wir ihn schon gelaufen. Diesmal jedoch kommt er mir elend lang vor. Ich fühle mich, als würden wir abgeführt.
    Sobald wir angekommen sind, verkrieche ich mich auf die vertraute Couch in Omas Stube. Keine Ahnung, was die Frau, die sich als Mitarbeiterin der Jugendhilfe vorstellt, meiner Großmutter so alles erzählt. Ich bin derart durcheinander, dass ich nichts mehr wahrnehme, meine Ohren verschließe. Stundenlang wippe ich auf dem Sofa vor und zurück, zusammengekauert, die Arme um die Beine geschlungen. Zum ersten Mal in meinem Leben. Ich bringe kein Wort heraus und weine die meiste Zeit. Panik breitet sich langsam in mir aus. Panik vor dem, was kommen wird. Die Angst tut jetzt körperlich weh. Ich versuche meine Sinne taub zu stellen. Es geht nicht.
    Nachdem sich die Behördenfrau verabschiedet hat, kommt die Großmutter zu mir. »Das ist alles nicht so schlimm. Ihr seid doch bei mir, bis die Mama euch wieder abholt«, redet sie beruhigend auf mich ein, während sie mir mit der Hand sachte übers Haar streicht.
    Aber ich will nur eines erfahren: »Wann kommt denn Mama nun endlich nach Hause?«
    »Das dauert nicht lange.« Eine richtig beruhigende Antwort hat Oma auch nicht zu bieten. »Wirst sehen, die kommt schon bald wieder«, sagt sie, doch überzeugt klingt sie nicht dabei.
    Eine düstere Ahnung steigt in mir hoch, verdrängt meinen Vorrat an Zuversicht. Als die Dunkelheit hereinbricht, lausche ich auf jedes Geräusch. Hat es geklopft, höre ich Schritte? Ruft da nicht jemand »Hallo, meine Süßen, da bin ich wieder!«? Nein, es bleibt beklemmend still.
    Ich verstehe die Welt nicht mehr, und niemand hilft mir, sie zu verstehen. Mama kommt nicht. Sie hat mich, entgegen ihrer Zusage, alleingelassen. Sonst hat sie ihre Versprechen immer eingehalten. Zum ersten Mal in meinem Leben ist mein Urvertrauen erschüttert.
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