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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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während sie auf sie einschimpfen. Ich schmiege mich an sie, verstecke mein Gesicht in ihrem blauen Wintermantel und klammere mich an ihrer Hand fest. »Nehmen Sie doch wenigstens auf die Kinder Rücksicht!«, fleht Mama. Ich will sie nicht mehr loslassen. Auch Mirko hängt sich fest ein. Zu beiden Seiten unserer Mutter schieben wir uns am Geländer entlang die ausgetretene Stiege vom ersten Stock nach unten. Das ist nicht leicht, weil die fremden Männer das Treppenhaus belagern. Ständig sind sie uns im Weg, bedrängen uns unangenehm. Tapfer mahnt Mama unsere Begleiter noch einmal: »Schubsen Sie mich doch nicht! Sehen Sie denn nicht, die Kinder …«
    Draußen bilden sie einen Ring um uns, als wollten sie uns beschützen – dabei sind sie es, die uns bedrohen. Der Wind bläst mir kalt ins Gesicht. Es ist ein grauer Montagmorgen. Auf der Straße sind nur wenige Menschen unterwegs. Durch ein schmales Gässchen biegen wir auf den Marktplatz von Gera ein, wo zwei Dienstwagen warten.
    Meine Gedanken überschlagen sich. Warum hier, mitten in der Stadt, vor aller Augen – und nicht unauffällig direkt vor unserem Haus? Wohin wollen sie uns denn bringen? Ist überhaupt noch Platz für uns im Auto, bei den vielen Leuten?
    Da fordert einer der Männer uns auf: »So, jetzt verabschiedet euch mal von eurer Mutter.« Er ist richtig ungeduldig. »Kommt jetzt, macht schon!«
    Mir wird angst und bange. Mein Herz rast, zugleich fühle ich mich wie erstarrt. Was soll das heißen:
Auf Wiedersehen?
Wo bringen sie meine Mama bloß hin? Ich sehe sie an. Auch in ihren Augen ist Angst, und ihr Blick lügt nie. In diesem Moment weiß ich genau, dass ich sie nicht ziehen lassen darf. Wohin sie auch geht, ich will dabei sein. Einer der Männer packt mich an den Schultern, um mich aus Mamas Griff zu lösen. Ich schreie, so laut ich kann: »Mama, Mama!« Mir ist jetzt alles egal. Ich habe nur Angst, tiefe Angst. Um nichts auf der Welt will ich meine Mutter verlieren.
    Auch die Leute um uns herum merken nun, dass etwas nicht stimmt. Ein Passant mischt sich sogar ein.
    »Was soll das?«, fragt er. »Das könnt ihr doch nicht machen!«
    Er wird sofort zum Schweigen gebracht. »Wenn Sie noch ein Wort sagen, nehmen wir Sie auch gleich mit.«
    Mein Bruder aber, mein Beschützer, kommt mir zu Hilfe. Mit Wucht tritt er dem Mann, der mich bedrängt, gegen das Schienbein und schreit ihn tapfer an: »Lass sie los!«
    Der Überraschungsmoment genügt, um mich aus dem Klammergriff zu befreien. Ich stürze meiner Mutter hinterher, als sie gerade in das hintere Fahrzeug geschoben wird. Mit meinem ganzen Körper umschlinge ich ihr rechtes Bein, das durch die halb geöffnete Tür aus dem beigefarbenen Auto ragt. Heute habe ich, anders als sonst, keinen Blick dafür, wie das Spiegelbild in den chromverzierten Stoßstangen meinem Gesicht groteske Züge verleiht. Ich will mich nicht wieder von Mama trennen lassen. Das schwöre ich mir.
    Da erst bemerke ich, dass sie um die Handgelenke seltsame Metallringe trägt. Mit den aneinandergeketteten Händen streicht sie mir übers Haar. Auch das fühlt sich fremd an. Immer stärker kriecht die Angst in mir hoch, dass Mama weggehen könnte, ohne uns, ohne mich. Das darf nicht sein! Die Tränen laufen mir über die Wangen, die Kälte und die Beklemmung nehmen mir den Atem, und meine Haut brennt.
    »Mama, fahr nicht fort! Bleib doch bitte bei uns!«, stoße ich hervor, von Schluchzern unterbrochen. »Ich werde auch immer artig sein. Das verspreche ich dir.« In meiner Not versichere ich ihr sogar, die scheußliche Strickhose in Zukunft immer ganz schnell anzuziehen.
    Von der Rückbank des Fahrzeugs aus beugt sie sich zu meiner bebenden Gestalt hinunter und zieht mich, so gut es geht, zu sich heran. Wegen der Handschellen kann sie mein Gesicht nicht in ihre Hände nehmen. »Komm her, mein Schatz«, flüstert sie. »Du bist doch schon ein großes Mädchen. Du musst jetzt tapfer sein und mich bitte loslassen. Ich verspreche dir auch, dass ich heute Abend wieder zu Hause bin. Lauf mit Mirko zur Oma!«
    Durch den Tränenschleier hindurch blicke ich sie an und will von ihren Augen bestätigt sehen, dass sie auch wirklich die Wahrheit sagt. Sie beteuert noch einmal: »Wir sehen uns heute Abend wieder, versprochen!« Ihr Blick kommt mir aufrichtig vor. Ich vertraue ihr, warum auch nicht? Ob wir im Kindergarten waren oder bei unserer Oma: So weit ich zurückdenken kann, hat Mama uns jedes Mal wieder abgeholt. Bisher.
    Ich
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