Entfuhrt
verstehen, dass das, was damals geschehen war, auch sie verfolgte. Nicht auf dieselbe Art, natürlich nicht. Aber auch nicht weniger. In gewisser Weise war es fast noch schlimmer. Sie traf keine Schuld, und sie brauchten nicht darüber nachzudenken, was sie vielleicht hätten anders machen können.
Es war kein Tag vergangen, an dem sich Ylva nicht Vorwürfe gemacht hatte. Sie hatte alle Stadien des Leugnens und des Selbsthasses durchlaufen, ohne je zur Ruhe zu kommen. Sie war dazu verdammt, mit ihrer Tat zu leben.
Sie quälte sich aus dem Bett und ging dann auf zittrigen Beinen auf die Türe zu, drückte die Klinke und rüttelte daran. Die Tür war abgeschlossen. In der Tür war ein Spion. Ylva schob das Auge davor und stellte fest, dass er ins Zimmer gerichtet war, sodass man von draußen zu ihr hineinschauen konnte.
Sie trat gegen die Tür, aber davon tat ihr nur der Fuß weh. Sie trommelte mit den Handflächen gegen die Tür und hoffte, so auf der anderen Seite ein Geräusch zu erzeugen. Sie hielt inne und lauschte auf Schritte, hörte aber
nur ihr eigenes Schluchzen. Schließlich begann sie hysterisch auf die Tür einzuschlagen und so laut zu schreien, wie sie konnte.
Ylva wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie mit tauben Handflächen und dem Rücken zur Tür zusammensackte.
Sie weinte eine Weile. Als sie irgendwann den Blick hob, bemerkte sie, dass der Keller wie eine Wohnung eingerichtet war.
Sie stützte sich mit den Händen auf dem Boden ab und stand mit Mühe auf. Sie ging in die Kochnische und öffnete den Kühlschrank. Bis auf eine halb volle Tube Schmelzkäse mit Krabbengeschmack war er leer.
Gegenüber der Kochnische gab es eine Tür. Ylva öffnete sie. Ein Badezimmer mit WC, Duschkabine und Waschbecken. Keine Fenster, nur ein Ventilator.
Ylva schloss die Tür und sah sich um. Die Wände bestanden aus Gasbetonsteinen. Alles in allem zwanzig Quadratmeter, also nur ein kleiner Teil der gesamten Kellerfläche.
Ylva erinnerte sich an die Paletten mit Baumaterial, die vor dem Einzug der neuen Eigentümer vor dem Haus gestanden hatten. Die polnischen Bauarbeiter waren kaum in der Lage gewesen, die neugierigen Fragen der Nachbarn zu beantworten.
Der Keller. Sie bauten den Keller um. Ein Musikstudio?
Nach dem Märchen zeichnete Sanna wie immer mit dem Finger das Muster der Tapete nach. Sie fragte erneut, wann ihre Mama nach Hause kommen würde, und Mike war fast ein bisschen beleidigt.
»Bin ich nicht gut genug?«
Er sagte das in scherzendem Ton, aber seine Worte klangen trotzdem verletzt.
»Mama kommt bald, sie trifft sich nur noch mit ihren Freundinnen. Erwachsene müssen auch manchmal ihre Freunde treffen.«
Mike fand, dass seine Worte wenig überzeugend klangen, aber Sanna schien das nicht aufzufallen.
Eine Viertelstunde später schreckte er hoch. Sanna schlief. Auf den Ellbogen gestützt, richtete er sich vorsichtig auf. Die schwachen Bettfedern knarrten und spannten sich unter seinem Gewicht, aber Sanna schlief ruhig weiter.
Mike ließ die Tür des Kinderzimmers offen stehen. Er erinnerte sich an das unbehagliche Gefühl von damals, wenn er als Kind im Stockfinstern aufgewacht war, ohne zu wissen, wo er war. Das wollte er Sanna ersparen.
Er ging in die Küche hinunter, öffnete den Kühlschrank und betrachtete den Inhalt, ohne etwas von Interesse zu finden. Dann öffnete er die Tür zur Speisekammer. Er hatte Glück: Hinter den Cornflakes entdeckte er eine angebrochene Tüte Erdnüsse. Er beschloss, dass er sie als tapferer, im Augenblick allein die Stellung haltender Vater verdient hatte, und goss sich dazu einen Whisky ein.
Mike setzte sich mit seinem Proviant ins Wohnzimmer,
schaltete den Fernseher ein und sah die zweite Hälfte eines Films, den er schon mal gesehen hatte. Er war besser, als er ihn in Erinnerung hatte, und plötzlich konnte er seine Tochter verstehen, dass sie sich immer wieder dieselben Filme anguckte. Dass einem die Überraschungen erspart blieben, war gar nicht so dumm.
Nach Ende des Filmes zappte er herum, ohne irgendwo etwas Sehenswertes zu finden. Er schaltete den Fernseher aus und holte sein Handy. Er hatte keinen Anruf verpasst, und eine SMS mit einer Entschuldigung war auch nicht eingetroffen.
Ganz schön dürftig, dass sie sich nicht gemeldet hatte. Schließlich war morgens noch nicht sicher gewesen, ob sie abends mit ihren Kollegen ausgehen würde. Sie hätte ruhig anrufen können, ob sie zum Abendessen zu Hause ist.
Mike beschloss, sie
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