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Entflammt

Entflammt

Titel: Entflammt
Autoren: Cate Tiernan
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mich genauer an ihn erinnern, wenn ich ihn schon mal getroffen hätte. Dieses Gesicht, diese Stimme vergaß man nicht. Doch ich hatte jeden Kontinent so oft durchquert, dass ich die vielen Male nicht mehr zählen konnte. Vielleicht war er noch nicht so alt. Oder ...
    Er war einer von diesen anderen Unsterblichen. Die Art, mit der ich nichts zu tun haben will, mit der mich nichts verbindet, die ich wie die Pest meide und über die ich mit meinen Freunden ablästere. Die Art, die ich ebenso verabscheue, wie sie mich verabscheut.
    Die Art, von der ich hoffte, dass sie mich ... retten würde. Beschützen. Die Tähti.
    »Nein.« Er schüttelte den Kopf und zog die Hand zurück. Ich schauderte und mir war noch kälter als vorher.
    »River's Edge liegt am Ende der Straße«, sagte er zögernd. »Am Ende dieser Straße ist eine Linkskurve. Nimm die erste Abzweigung links. Dann kommst du zum Haus.«
    »Dann ist River also noch da?«
    Seine Miene war undurchdringlich. »Ja.«

3
    Im Rückspiegel verfolgte ich, wie er die Straße hinunterging. Er war groß, mit breiten Schultern, und sein Hintern in der Jeans war eine Augenweide. Während ich seinen Rücken anschmachtete, wurde ich das Gefühl nicht los, ihn von irgendwoher zu kennen, und ich durchforstete mein Gehirn. Dann machte ich den Fehler, einen Blick auf mich selbst zu werfen, und stöhnte auf - meine Haut hatte eine ungesunde Nachtclub-Blasse, meine Augen sahen mit den blauen Kontaktlinsen total komisch aus und meine schwarze Stachelfrisur stand steif ab und saß auch noch schief. Ich war das genaue Gegenteil von ihm: Er war der perfekte Mann und ich die am wenigsten perfekte Frau. Ungepflegt und ungesund. Ach, wen störte das schon? Mich jedenfalls nicht.
    Vier Minuten Holperstraße später fuhr ich auf ein zweistöckiges Haus zu, das eher nach einer Schule oder einem Internat aussah als nach einem Privathaus. Es war groß und rechteckig, in einem strengen, makellosen Weiß gestrichen und hatte dunkelgrüne Fensterläden. Seitlich davon befanden sich mindestens drei Nebengebäude und eine Steinmauer, hinter der ich einen großen Garten vermutete.
    Ich parkte mein Auto auf dürrem Herbstgras neben einem verbeulten roten Pick-Up. Es kam mir vor, als wären die nächsten Minuten von existenzieller Bedeutung und würden über meine Zukunft entscheiden. Jetzt aus dem Auto zu steigen war gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, dass ich mein bisheriges Leben vergeudet hatte. Dass ich vergeudet war. Ich würde zugeben, dass ich mich vor meinen Freunden, vor mir selbst, meiner eigenen Düsternis, meiner Geschichte fürchtete. Alles in mir wollte für immer und ewig in diesem Auto sitzenbleiben, die Fenster fest geschlossen. Wäre ich ein normaler Mensch, für den für immer und ewig nur etwa
    sechzig Jahre dauerte, hätte ich es vielleicht sogar getan.
    Aber in meinem Fall war für immer und ewig wirklich unerträglich lange. Ich hatte also keine Wahl.
    Ich war aus einem bestimmten Grund hergekommen und dafür hatte ich meine Freunde verlassen und war auf einem anderen Kontinent untergetaucht. Im Flugzeug war mir klar geworden, dass es neben Incys Attacke auf den Taxifahrer und der Abscheu gegenüber meiner eigenen Feigheit und meiner Paranoia, weil Incy meine Narbe gesehen hatte, noch hundert oder tausend andere Dinge gewesen waren, die an meinem Innersten genagt hatten, bis ich das Gefühl nicht mehr loswurde, nur noch eine leere Hülle zu sein, in der nichts Lebendiges mehr war. Ich hatte weder gemordet noch gebrandschatzt, aber dennoch zog sich eine Spur der Zerstörung durch mein Leben. Mit Übelkeit erregender Ehrlichkeit musste ich mir eingestehen, dass alles, was ich berührte, Schaden nahm. Leute wurden verletzt, Häuser zerstört, Autos demoliert, Karrieren vernichtet - die Erinnerungen tröpfelten in mein Gehirn wie Säure, bis ich am liebsten geschrien hätte. Ich hatte es im Blut. Das war mir klar. Eine Düsternis. Die Düsternis. Ich hatte sie geerbt, zusammen mit meiner Unsterblichkeit  und den schwarzen Augen. In jüngeren Jahren hatte ich mich noch dagegen gewehrt. So getan, als wäre sienicht da. Aber irgendwann war dieser Kampf verloren gewesen. Lange Zeit hatte ich damit gelebt. Doch in dieser letzten Nacht war die Düsternis, die mich schon mehr als vierhundert Jahre verfolgte, mit erstickender Schwere über mich hereingebrochen. Und auf einmal hasste ich, was sie aus mir gemacht hatte.
    Wenn ich ein normaler Mensch gewesen wäre,
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