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Entfesselt

Entfesselt

Titel: Entfesselt
Autoren: Cate Tiernan
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wollte etwas sagen.
      »Wenn River mich bittet, deine nervigen Fragen zu beantworten, werde ich es tun. Aber bis dahin, Ott - ich darf dich doch Ott nennen? Bis dahin, Ott, kannst du mich mal. Ich stieg über die Bank und wollte das Esszimmer würdevoll verlassen. Lorenz hob die Brauen. Ottavio wurde blass und sprang auf.
      Er überragte mich um einen ganzen Kopf. Reyn schob sich auf seiner Bank zurück, als würde er gleich eingreifen wollen. River schaute ernst drein, biss sich aber auf die Unterlippe, als müsste sie sich das Lachen verkneifen. Das war der Moment, in dem mir einfiel, dass meine letzte persönliche Katastrophe noch ziemlich frisch war und ich vielleicht nicht so dick auftragen sollte. Upps. Na, dafür war es jetzt wohl zu spät.
      »Und ihr sitzt einfach nur da und mimt den Wackeldackel?«
      Ich sah Charles, Jess und Solis an. »Was ist denn mit eurer Vergangenheit? Glaubt ihr wirklich, über mich urteilen zu können?«
      Jess und Charles starrten auf ihre Teller, als fiele ihnen wieder ein: Ach ja, ich bin ja selbst ein totaler Versager. Das war mir für einen Moment entfallen. Solis erwiderte meinen Blick, aber er wirkte nachdenklich.
      Eine kluge Person hätte sich jetzt würdevoll zurückgezogen.  Aber da wir von mir reden, kam das natürlich nicht infrage.
      »Weißt du überhaupt, wer ich bin?«, fuhr Ottavio mich an. Seine seelenlosen Augen glühten förmlich und auf seinen aristokratischen Wangen breitete sich Zornesröte aus.
      Reyn stand auf. Er war zwar ein bisschen kleiner als Ottavio, aber die tödliche Ruhe, die er ausstrahlte, hätte sogar einen Löwen im Sprung gestoppt.
      »Klar«, sagte ich zu Ottavio. »Du bist Rivers Bruder.«
      Am anderen Ende des Tisches gab River hinter vorgehaltener Hand einen erstickten Huster von sich.
      Ottavio richtete sich kerzengerade auf.
      »Ich bin Ottavio di Luchese della Sovrano«, tönte er. »König des Sechsten Hauses in Genua!« Er war groß und eindrucksvoll und schien mit seinem dunklen Anzug und dem makellos weißen Hemd das gesamte Ende des Raums einzunehmen. Er wirkte extrem königlich. Die Kombination aus lockigen Silberhaaren und einem erstaunlich glatten Gesicht, das ihn wie dreißig erscheinen ließ, tat seinem imposanten Auftreten keinen Abbruch.
      Das Kapuzenshirt, das ich trug, war das unschuldige Opfer eines Waschmaschinenunglücks, und wie mir erst jetzt auffiel, klebte auf meiner Jeans neben Dreck noch etwas anderes - vielleicht Erdbeermarmelade. Nicht besonders königlich. »Das hört sich richtig gut an, Ott«, sagte ich.
      Alle im Raum sahen uns mit großen Augen zu und hielten den Atem an: Hier entfaltete sich ein weiteres Nastasja-Drama, das extra für sie aufgeführt wurde. Abendessen mit Showeinlage.
      »Das ist es auch«, knurrte er. »Und du bist eine gefährliche Streunerin, die meine Schwester aufgesammelt hat! Ein Stück Terávà-Abschaum!«
      Wieso musste ich bei dem Wort Abschaum bloß immer an eine Schaumparty denken?
      River streckte die Hand aus und zupfte an seinem Ärmel. Er ignorierte sie.
      »Eigentlich nicht«, sagte ich. Hier wussten alle von meiner Vergangenheit, von dem unerwarteten Erbe, das ich die letzten vierhundertneunundvierzig Jahre verleugnet hatte. Aber offenbar hatte River dem ollen Ott nichts davon erzählt. Wahrscheinlich hatte er sie nicht zu Wort kommen lassen, der Stinker.
      Meine Finger kribbelten und ich fühlte mich irgendwie abgehoben und ganz komisch. Ich hatte eine sehr lange Zeit nicht an mein Erbe gedacht und jede Erinnerung an meine Kindheit, meine Eltern und meine Geschwister verdrängt. Ich schätze, ich hätte meine Vergangenheit vollständig aus meinem Kopf verbannen können, wenn ich nicht diese ständige Mahnung mit mir herumtragen würde: die Narbe in meinem Nacken. Sie ist rund, etwa fünf Zentimeter groß und das perfekte Abbild einer Hälfte des Amuletts, das meine Mutter jeden Tag ihres Lebens um den Hals getragen hat. Es hatte sich in der Nacht, in der meine Eltern starben, in meine Haut eingebrannt. Seitdem hatte ich vierhundertneunundvierzig Jahre lang immer einen hohen Kragen, einen Schal oder beides getragen und in dieser ganzen Zeit hatten - soweit ich wusste - nur drei Leute meine Narbe zu sehen bekommen: Incy, River und Reyn. Tatsache ist, dass ich mir alle Mühe gegeben habe, meine Identität zu vergessen. Aber plötzlich verspürte ich das dringende Verlangen, vor Ott die Bombe platzen zu lassen.
      »Oh, doch!« Seine
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