Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung.
Autoren: Marlene Streeruwitz
Vom Netzwerk:
durch sie hindurch. Den rasenden Ball von Wut in den Bauch. Gegen den Nabel und sich dann ausbreiten. Alles zusammenballen lassen und dann langsam aus. Verebben. Zerfließen. Und nicht weinen. Nicht über die Ursache. Nicht über die Wirkung. Nicht weinen. Gehen. An der Reinigung vorbei. Am Biofriseur. Gehen. Atmen. Weiteratmen. Nicht den Atem anhalten. Am Anfang hatte sie vergessen zu atmen. Bei diesen Anfällen. Und dann in einen Taumel geraten. Und in Tränen. Weinkrämpfe. Ohnmachten auf dem Bett. Die Hilflosigkeit in bleischweren Schlaf und dann Schlaflosigkeit. Aber jetzt hatte sie keine Zeit. Sie hatte keine Zeit für einen ausführlichen Anfall. Sie musste zum Flughafen. Sie musste nach London. Sie musste eine Chance nutzen. Sie konnte sich nicht um sich selber kümmern. Und sie konnte sich nicht um die Reaktionen der anderen kümmern. Im Gegenteil. Sie musste die Reaktionen der anderen verdrängen. Sie musste sich vollkommen entfernen. Absetzen. Und dann alles selbst bestimmen. Sie musste begreifen. Sie war außerhalb geraten. Gestoßen. Und ihre Aufgabe war es jetzt, dieses Außerhalb. Sie musste lachen. Sie lachte laut auf. Die Straße leer. Kaum jemand ging. Aber sie sah sich gar nicht um. Es musste ihr gleichgültig sein, wie irgendwelche Passanten sie beurteilten. Sie musste zielgerichtet agieren. »Aber bitte keinen Psychotalk.« Sie sagte das laut. Die Tasche und der Rucksack schlugen bei jedem Schritt gegen ihr Schulterblatt. Die Riemen würden Striemen hinterlassen. Auf der Schulter. Auf Reisen war das immer so. Blaue Flecken. Striemen. Knieschmerzen vom verkrampften Sitzen im Flugzeug. Aber niemand würde sie nackt sehen. Niemand würde sie je wieder nackt sehen. Außer medizinischem Personal. Sie konnte sich das überhaupt nicht vorstellen. Sie konnte sich das nicht mehr vorstellen. Libido. Sie hatte keinen Platz für Lust. Das war gerade noch so wichtig gewesen. War das der eigentliche Verlust. Hatte die Kette von Schicksalsschlägen. Sie dachte nach. Konnte sie das so nennen. Aber es bot sich kein anderes Wort an. Schicksalsschläge. Hatte sie das die Lust gekostet. Hatte sie das auf die Seite der Todessehnsucht gestoßen. Ohne Umwege über die Lust gleich der Tod der Ausweg. Aber wenn sie es ernsthaft überlegte. Wenn jetzt noch etwas passierte. Dann blieb ihr nichts anderes übrig. Als Strotterin konnte sie sich nicht sehen. Noch nicht. Auch wenn die Bandion sicher war, den Prozess gegen den Anton zu gewinnen. Dass sie ihr Geld bekam. Dass sie ihr Geld bekommen sollte. Das war dann trotzdem noch nicht sicher. Sie ging. Es war einfach zu heiß, an irgendetwas zu denken. Und es war nur natürlich, diesen Teil von sich einmal stillzulegen. Das war wahrscheinlich sogar gesund. Irgendwie. Diese Stille im Körper. In der ihr der Körper nichts zuraunte. Kein Wollen. Kein Wünschen. Nur das Verlangen nach Ruhe und richtigem Schlaf. Nach tiefem Schlaf. Das hätte sie alles mit der Sydler besprechen können. Das hätte sie alles mit der Sydler besprechen sollen. Aber sollte sie wegen ihrer Umstände alle Vorhaben aufgeben. Sollte sie, weil ihr Chef und ihr Mann Schweine waren. Weil die Welt am Ende doch nur ein Schweinestall. Sollte sie deshalb auch. Sollte sie sich einreihen. Und der Mutter nicht mehr die Treue halten. Sie musste sich verändern. Sie musste alles ändern. Es war ihr alles umgestoßen worden, und sie musste einen neuen Weg finden. Die Schritte neu. Sie musste etwas lernen aus diesen neuen Umständen. Aber sie musste nicht gleich alles aufgeben. Und die Sydler wartete darauf, dass sie zusammenbrach. Dass sie sich ausweinen kam. Die Mutter war ja dann auch. Am Ende. Und sie musste der Mutter treuer sein als die Mutter sich selbst. Sie ging am Hafnermeister vorbei. In der schattigen Auslage ein Empirekachelofen. Weiß. Rund. Mit Füßchen. Schlank. Und jetzt im Sommer kühl beim Anlehnen. Der Hafnermeister war schon immer da. An diesem Geschäft war sie immer schon vorbeigegangen. Zur Schule. Zum Papiergeschäft an der Ecke zur Schmidgasse. Am Vorsprung zum Haus vom »Schnattl« ein bisschen Schatten. Zwei Schritte im Schatten. Aber gleich der dunkle Stoff weniger Last um den Oberkörper. In London war es nicht so heiß. In London hatte es heute 25 Grad. Das war für London ohnehin schon warm. Der schwarze Hosenanzug war für London gerade richtig. Jonathan hatte einen Tisch bei einem Italiener bestellt. Das konnte in London alles heißen. Aber Jonathan war stolz auf seine hohen Spesen.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher