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Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)

Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)

Titel: Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
Autoren: Sonia Mikich
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Wochenende wird das System stark heruntergefahren, im Grunde ein Notdienst mit etwas Drumherum. Doch schon Samstagabend kommt ein leichtes Fieber. Dann am Sonntagmorgen starke Schmerzen im Bauch, Tabletten wirken kaum. Gegen 14 Uhr beschließen wir, zur Klinik zu fahren. Am frühen Nachmittag liege ich wieder im Einzelzimmer, während mein Mann und meine Freundin vergeblich versuchen, einen Arzt zu finden. Die Gänge sind menschenleer.
    Eine einsame Schwester wird von meinem Mann bedrängt, doch schnell einen Arzt zu rufen.
    Wir sind doch nicht einfach so vorzeitig zurückgekommen – räsoniert er höflich. Kein Erfolg, es ist ja Sonntag. Meine Freundin versperrt später einem weißen Kittel den Weg, in der Hoffnung, dass er Arzt ist. Die Schwester protestiert:
    Er kennt Sie und Ihren Fall doch gar nicht …
    Aber er hat doch wohl Medizin studiert?
    Kein Doc nirgendwo. Nichts passiert. Sonntags sind Komplikationen wohl nicht vorgesehen, eigentlich eine Slapstick-Situation. Nur dass mir der Bauch unglaublich wehtut. Bin zu schlapp, um loszuschreien. Noch mehr Schmerzmedikamente. Die ich immer schlechter vertrage, mein Magen revoltiert.
    Eigentlich nehmen wir gern Novalgin, nur in wenigen Fällen vertragen Patienten das nicht so gut.
    Ich bin so ein Fünf-Prozent-Fall. Meine Freundin schlägt Zäpfchen vor; von Beruf ist sie Filmcutterin, nicht Apothekerin. Die geringste Berührung ist jetzt schon qualvoll. Was ist da drinnen los? Ohne Laborwerte schwer zu diagnostizieren. Aber sonntags gibt es offenbar keine Laborwerte. In der Nacht wechseln sich stärkste Magenschmerzen und ein böser Reizhusten ab.
    6. Juni. Montagmorgen. Langsam läuft die Maschinerie an. Ich sitze im Rollstuhl, kann nicht mehr gehen. Ein CT muss her. Die Schwester sagt:
    Fahren Sie runter in die erste Etage, die wissen Bescheid, fragen Sie nach Frau X.
    Mein Mann schiebt. Niemand in der ersten Etage weiß Bescheid, eine Frau X. existiert nicht. Wir stehen vor der offenen Tür eines – leeren – Untersuchungsraums, auf dem Gang rennen Menschen vorbei, die keine Frau X. kennen.
    Aber prinzipiell Sie sind hier richtig.
    Nichts passiert. Das Warten macht müde, mürrisch. Mein Mann geht entnervt wieder zur Station hoch und fordert Auskunft. Die Schwestern schicken ihn zurück, sie können die Station nicht verlassen und mit ihm suchen, es ist zu viel zu tun:
    Da ist eine Überwachungskamera, da wird man Sie schon wahrnehmen …
    Herumhängen, im Wortsinn, ich kann kaum aufrecht sitzen. Endlich ist jemand da.
    Sie sind die mit dem Blinddarm ?
    Nein, in der Akte, die sie ungeöffnet in der Hand hält, steht, worum es geht.
    Meinen Wurmfortsatz habe ich seit vierzig Jahren nicht mehr .
    Ich sage es so unfreundlich wie möglich und schlage vor, die Akte zu öffnen. Es wird noch Dutzende Male passieren. Dass diese Akte wie eine Monstranz herumgetragen, aber nicht gelesen wird. Der Patient ist für die Kommunikation von Arzt zu Arzt, Abteilung zu Abteilung, Schwester zu Schwester selbst zuständig. (Wenn er denn den Mund aufbekommt. Wenn er Deutsch sprechen kann. Wenn er die medizinischen Begriffe behält.)
    Montagmittag. Die Blutwerte sind katastrophal. Das CT zeigt eine Nathinsuffizienz. Ein undramatisches Wort für die Tatsache, dass die erste OP danebengegangen ist. Dies kann in rund fünf Prozent der Fälle vorkommen, ich habe allerlei Erklärungen unterschrieben, die nichts anderes besagen als: shit happens .
    In meinem ganzen Bauchraum haben sich lebensgefährliche Keime ausgebreitet. Bauchfellentzündung – ein Oberarzt und drei Assistenten operieren vier Stunden lang, spülen immer wieder durch.
    Als ich gegen drei Uhr morgens im Zimmer aufwache, habe ich schwarze Spinnwebenfetzen vor Augen. Ich blinzele und blinzele, und sie gehen nicht weg. An der Wand hängt die Uhr, sie ist anders als in den Tagen vorher, denn sie rast rückwärts. Ich verstehe nicht. Die surrealistischen Zeiger der Uhr entsetzen mich. Warum geht die Zeit zurück? Wohin geht sie? Todesangst. Ich bin überzeugt, dass ich gleich meine eigene Sterbeurkunde unterschreiben soll, und will nicht. Ich will, dass die verrückt gewordene Uhr stillsteht. Mein Herz rast ebenfalls wie verrückt.
    Weil so viele Schläuche an mir hängen, weil alles wehtut, erreiche ich nicht den Notrufknopf. Ich wage nicht, die Augen zu schließen, weil dann der Tod ins Zimmer kommt und mir die Sterbeurkunde entgegenhält. Der einsamste Moment meines Lebens, der fürchterlichste.
    Am Morgen ist Professor
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