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Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)

Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)

Titel: Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
Autoren: Sonia Mikich
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wegen einer individuellen Beschwerde. Aber ich spare doch der Versicherung Geld, wenn ich prüfe, moniere? Ist für sie egal. Wenn die Behandlungen immer teurer und umfänglicher werden, dann erhöhen Versicherungen Beiträge, basta. Das System belohnt Nachfragen und Kostenbewusstsein des Einzelnen nicht.
    Eine fürchterliche Angewohnheit stellt sich ein: mit allen Besuchern über Blutwerte zu reden, mit Zahlen zu jonglieren, die ich in Wirklichkeit nicht verstehe. Schein-Expertise gibt etwas Halt, und auch mein Internist ist sichtbar glücklich, wenn er verkünden darf, dass irgendetwas bald wieder im grünen Bereich ist.
    Am 7. Juli geht es zurück ins Krankenhaus. Die Harnleiterschiene wird entfernt, eine Kleinigkeit, etwa vergleichbar mit dem Herausnehmen einer Verhütungsspirale. Gute Laune, keine Komplikation. Doch die szintigrafische Untersuchung am Tag drauf ergibt, dass die Schiene nicht geholfen hat, dass der Stau nach wie vor besteht.
    Weil das Kontrastmittel schwach strahlt, sollen Sie sich in den nächsten Stunden nicht in der Nähe von kleinen Kindern aufhalten , scherzt die Ärztin. Sie unterstreicht: Ohne Schiene besteht der Stau weiter. Und wenn der Stau weiterbesteht, stirbt die Niere ab.
    Darum muss am 19. Juli ein zweites Doppel-J her. Drei Monate soll diese Schiene nun ihre Arbeit tun und meine Niere entlasten. Sie macht mich unleidlich, ich will diesen Fremdkörper nicht und bin meiner Niere gram. Der Leiter der Abteilung stimmt mich nicht froher:
    Falls es bei Ihnen mit dem Doppel-J nicht klappt, kann ich Ihnen aus einer Dünndarmschlinge einen neuen Ureter machen, ist kein großer Eingriff.
    Chirurgen wollen und müssen eingreifen. Müssen machen. Der OP -Tisch ist ihr Gral, ihr Shangri-la . Tief in ihrer persönlichen und ökonomischen DNA ist dies festgeschrieben.
    Die To-do-Liste eines Krankenhausarztes ist streng auf Diagnose-Therapie ausgerichtet. Was ich als Versuch und Irrtum – verstörend – erlebe, ist klassische Ausschlussdiagnostik. Aufwendig, teuer, frustrierend, zäh. Menschen schrumpfen zusammen auf Krankheit und körperliche Defizite. Jeder Arzt weiß ein bisschen, jeder legt ein weiteres Papier in die Akte. Ein »Adlerblick« auf den individuellen, kranken Menschen ist nicht vorgesehen.
    Menschlichkeit ist im System ein Faktor, der sich nicht beziffern und abrechnen lässt. Gespräche? Nice to have , aber kein Recht.
    Drei Minuten bei der Visite – Na, wie geht es?/ Sie sehen ja schon besser aus/ heute gefallen Sie mir/ es geht aufwärts/ da müssen wir noch ran/ jaja, ich verstehe Ihren Frust . Der blödeste Satz: … wird schon schiefgehen … Banalitäten, die Zuversicht ausstrahlen sollen, doch das Herz nie erreichen. Wie auch? Für aufrichtige Empathie ist keine Zeit, ist kein Personal da. Ich bezweifele auch, dass Einfühlungsvermögen an den Unis gelehrt wird. Vielleicht gibt man den Studenten eine Checkliste mit Satzbausteinen. Richtig wäre es, Rollentausch zu üben, direkt im ersten Semester. Noch viel besser, wenn jeder Krankenhausangestellte selbst mal als Patient in der eigenen Klinik gelegen hätte.
    Das Haus, das krank macht. An meinem vorletzten Tag in der Klinik übe ich wieder das Gehen, immer den Flur entlang. Eine öde Übung, die Augen rutschen über tote Glühbirnen hinweg, die nach vielen Wochen noch nicht ausgewechselt wurden – obwohl ein Kontrollzettel dazu seit April aufforderte. Blick aus dem Fenster: Die Arbeiten an einem neuen, großen Bauabschnitt verheißen noch mehr Wachstum, am Bettenmangel soll die Produktionsstätte für Gesundheit wohl nicht scheitern. Manche mutmaßen freilich, dass Kliniken in Deutschland gern auf diese Art Schulden machen, um dann von den kommunalen Trägern an private Investoren verkauft werden zu können.
    Ich höre zittrige Hilferufe. Eine alte Frau liegt in einem Zwei-Bett-Zimmer, weit entfernt vom Schwesternraum. Ihr Rollstuhl steht etwa einen Meter von der Bettkante entfernt, sie hat den kurzen Schritt nicht bewältigt und liegt nun schmerzhaft gekrümmt, in verschwitzten Laken verwickelt da, kann den Rufknopf nicht erreichen und auch Hilfe nicht herbeibrüllen. Ihr Kopf ist schief eingezwängt in verknoteter Kleidung, die sie vielleicht an- oder ausziehen wollte. Schon lange liegt sie so, wimmert und weint und röchelt. Die Patientin im anderen Bett ist regungslos. Ich schlurfe hin, schaffe nicht, den eingezwängten Körper der alten Frau zu begradigen, die Laken auseinanderzuziehen und ihren Kopf bequem aufs
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