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Enigma

Enigma

Titel: Enigma
Autoren: Robert Harris
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Information gekommen war, nur, daß sie aus sehr zuverlässiger Quelle stammte (er machte Andeutungen über ein Gespräch von Mann zu Mann). Kite vergaß seinen früheren Spott über Liebesbriefe und versicherte jetzt, daß der junge Mann ganz offensichtlich an gebrochenem Herzen litt.

2.
    Jericho öffnete seine Briefe nicht sofort. Statt dessen zog er die Schultern ein und stemmte sich gegen den Wind. Nach einer Woche in seinem Zimmer bewirkte die Menge von Sauerstoff, die ihm ins Gesicht geblasen wurde, daß er sich leicht benommen fühlte. Er bog am Versammlungsraum der Erstsemester nach rechts ab und folgte dem Plattenweg, der durch das College und über die kleine gewölbte Brücke zu den darunterliegenden Rieselwiesen führte. Links von ihm lag die Aula des Colleges, zu seiner Rechten, jenseits einer ausgedehnten Rasenfläche, ragte die mächtige, zerklüftete Fassade der Chapel auf. Eine kleine Kolonne von Chorknaben zog mit flatternden Gewändern in ihrem grauen Windschatten entlang.
    Er blieb stehen, und eine Bö versetzte ihm einen so heftigen Stoß, daß er einen halben Schritt zurücktreten mußte. Von einer Seite des Weges zweigte ein steinerner Durchgang ab, dessen Bogen von unbeschnittenem Efeu überwuchert war. Aus Gewohnheit sah er zu den Fenstern im zweiten Stock hinauf. Sie waren dunkel, die Läden geschlossen. Auch hier hatte der Efeu ungehindert wuchern können, so daß mehrere der kleinen, rautenförmigen Fenster hinter dichtem Laub verschwunden waren.
    Er zögerte, dann verließ er den Weg und trat in die Dunkelheit unter dem Bogen.
    Die Treppe sah noch genauso aus, wie er sie in Erinnerung hatte, nur daß dieser Flügel jetzt geschlossen war und der Wind tote Blätter in den Treppenschacht geweht hatte. Eine alte Zeitung wickelte sich um seine Beine wie eine hungrige Katze. Er drückte auf den Lichtschalter, es klickte, doch es kam kein Licht. Die Glühbirne fehlte. Trotzdem konnte er den Namen erkennen, einen von dreien, die in eleganten weißen Großbuchstaben auf eine Holztafel gemalt waren, die gesprungen und verblichen war.
    TURING, A. M.
    Wie nervös war er diese Stufen zum erstenmal hinaufgestiegen - wann? Im Sommer ´38? Vor einer halben Ewigkeit -, um einen Mann aufzusuchen, der kaum fünf jähre älter war als er, aber schüchtern wie ein Erstsemester. Der große Alan Turing, Autor des Werkes On Computable Numbers und Vordenker der universellen Rechenmaschine…
    Turing hatte ihn gefragt, welches Thema er sich für sein erstes Forschungsjahr ausgesucht habe.
    »Riemanns Theorie der Primzahlen.«
    »Aber ich arbeite selbst an Riemann.«
    »Ich weiß«, war Jericho herausgeplatzt. »Deshalb habe ich mich ja für ihn entschieden.«
    Und Turing hatte gelacht über diese unverhohlene Zurschaustellung von Heldenverehrung und sich bereit erklärt, Jericho bei seiner Arbeit zu unterstützen, obwohl er das Unterrichten haßte.
    Jetzt stand Jericho auf dem Treppenabsatz und versuchte, Turings Tür zu öffnen. Sie war natürlich abgeschlossen. Seine Hand war voller Staub. Er versuchte sich zu erinnern, wie das Zimmer ausgesehen hatte. Ausgesprochen chaotisch. Der Fußboden war übersät mit Büchern, Notizen, Briefen, schmutzigen Kleidungsstücken, leeren Raschen und Konservendosen. Auf dem Sims über der Gasheizung hatte ein Teddybär namens Porgy gesessen, und in einer Ecke lehnte eine ramponierte Geige, die Turing bei einem Trödler erstanden hatte.
    Turing war zu schüchtern gewesen, als daß man ihn wirklich hätte kennenlernen können, und ab Weihnachten 1938 ließ er sich fast überhaupt nicht mehr sehen. Er sagte Verabredungen zu Besprechungen in letzter Minute mit der Begründung ab, er müsse nach London. Oder Jericho stieg diese Treppe hinauf und klopfte, doch es kam keine Antwort, obwohl Jericho genau spürte, daß er zu Hause war. Als die beiden Männer sich um Ostern 1939, nicht lange nach dem Einmarsch der Nazis in Prag, endlich doch einmal trafen, hatte Jericho seinen ganzen Mut zusammengenommen und gesagt: »Also, Sir, wenn Sie nicht mein Tutor sein möchten…«
    »Das ist es nicht.«
    »Oder wenn Sie mit Riemanns Hypothese weitergekommen sind und das für sich behalten wollen…«
    Turing hatte gelächelt. »Ich versichere Ihnen, Tom, ich bin mit Riemann keinen Schritt weitergekommen.«
    »Aber was…«
    »Es geht nicht um Riemann.« Und dann hatte er, sehr leise, hinzugefügt: »Wie Sie wissen, passieren in der Welt jetzt Dinge, die nichts mit Mathematik zu tun
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