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Enigma

Enigma

Titel: Enigma
Autoren: Robert Harris
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Zeitlang. Dann öffnete er zwei von ihnen. Der eine enthielt eine Karte von seiner Mutter, der andere eine von seiner Tante. Beide gratulierten ihm zum Geburtstag. Keine der beiden Frauen hatte auch nur die leiseste Ahnung, was er tat, und er wußte, daß sie beide enttäuscht waren und sich schämten, daß er keine Uniform trug und auf sich schießen ließ wie die Söhne der meisten ihrer Bekannten.
    »Aber was soll ich den Leuten sagen?« hatte seine Mutter ihn bei einem seiner kurzen Besuche zu Hause verzweifelt gefragt, nachdem er sich abermals geweigert hatte, ihr zu sagen, was er tat.
    »Sag ihnen, ich arbeite beim Fernmeldewesen der Regierung«, hatte er erwidert und sich damit der Formel bedient, die er benutzen sollte, falls er beharrlichen Nachfragen ausgesetzt wäre.
    »Aber vielleicht möchten sie ein bißchen mehr wissen als nur das.«
    »Dann machen sie sich verdächtig, und du solltest die Polizei rufen.«
    Seine Mutter hatte sich die gesellschaftliche Katastrophe vorgestellt, wenn ihr Bridge-Quartett von einem Inspektor vernommen würde, und war verstummt.
    Und der dritte Brief? Genau wie Kite drehte er ihn um und roch daran. Bildete er es sich nur ein, oder war da wirklich ein Hauch von Parfüm? »Ashes of Roses« von Bourjois, ein winziges Fläschchen, das ihn für einen Monat fast bankrott gemacht hatte. Er benutzte seinen Rechenschieber als Brieföffner und schlitzte den Umschlag auf. Drinnen steckte eine billige Karte, gedankenlos ausgewählt - sie zeigte ausgerechnet eine Schale voll Obst -, mit einer den Umständen angemessenen Standardbotschaft, so nahm er jedenfalls an, da er sich bisher noch nie in dieser Situation befunden hatte.
    »Liebster T.
    … Du wirst für mich immer ein Freund bleiben… vielleicht später einmal… tat mir leid, zu hören… in Eile… alles Gute…«
    Er schloß die Augen.
    Später, nachdem er das Kreuzworträtsel gelöst hatte, nachdem Mrs. Sax mit dem Putzen fertig war, nachdem Bickerdyke ein weiteres Tablett mit Essen abgestellt und unberührt wieder abgeholt hatte, ließ sich Jericho auf Hände und Knie nieder, zog einen Koffer unter dem Bett hervor und schloß ihn auf. Zwischen den Seiten seiner 1930 erschienenen Doubleday-Erstausgabe des Complete Sherlock Holmes lagen sechs mit seiner winzigen Handschrift bedeckte Blatt Papier. Er ging damit an den wackligen Schreibtisch am Fenster und strich sie glatt.
    »Die Chiffriermaschine konvertiert die Eingabe (Klartext, K) in Chiffre (Z) mittels einer Funktion f. Deshalb ist Z = f (K, S), wobei S den Schlüssel bezeichnet…«
    Er spitzte seinen Bleistift an, blies die Späne weg und beugte sich über das Papier.
    »Angenommen, S hat n mögliche Werte. Für jede der n angenommenen Möglichkeiten müssen wir sehen, ob f - 1 (Z, K) Klartext hervorbringt, wobei f - 1 die Dechriffierfunktion ist, die den Klartext liefert, sofern S korrekt ist…«
    Der Wind kräuselte die Oberfläche des Cam. Ein Schwarm Enten ritt auf den Wellen, ohne sich zu bewegen, wie vor Anker liegende Schiffe. Er legte seinen Stift hin und las abermals ihre Karte, versuchte das Gefühl zu ermessen, den Sinn hinter den banalen Phrasen. Ob man, fragte er sich, eine entsprechende Formel für Briefe entwickeln konnte - für Liebesbriefe oder solche, die das Ende einer Liebe signalisierten?
    »Die Eingabe (Gefühl, G) wird von der Frau mittels der Funktion w in eine Botschaft (B) konvertiert. Also ist B = w (G, V), wenn V das Vokabular bezeichnet. Angenommen, V hat n mögliche Werte…«
    Die mathematischen Symbole verschwammen vor seinen Augen. Er ging mit der Karte ins Schlafzimmer zum Kamin, kniete nieder und zündete ein Streichholz an. Das Papier flammte auf, wellte sich in seiner Hand und verwandelte sich rasch in Asche.
    Allmählich nahmen seine Tage eine gewisse Form an.
    Er stand früh auf und arbeitete zwei oder drei Stunden. Nicht an Kryptoanalyse - er hatte alle Notizen am gleichen Tag verbrannt wie ihre Karte -, sondern an reiner Mathematik. Dann machte er ein Nickerchen. Vor dem Mittagessen löste er das Kreuzworträtsel in der Times. Dafür stoppte er die Zeit auf der alten Taschenuhr seines Vaters: Er brauchte nie länger als fünf Minuten, und einmal hatte er es in drei Minuten und vierzig Sekunden geschafft. Es gelang ihm, eine Reihe von komplizierten Schachproblemen zu lösen - »die Choräle der Mathematik« hatte Hardy sie genannt -, ohne Figuren oder ein Brett zu benutzen. All das bestätigte ihm, daß sein Verstand keinen
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