Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Enigma

Enigma

Titel: Enigma
Autoren: Robert Harris
Vom Netzwerk:
Kopf, sah sie nicht ein einziges Mal an, schien überhaupt nicht zu wissen, daß sie da war, der arme Mann. Dann war sie im Begriff, einen seiner Koffer beiseite zu schieben, und er fuhr hoch wie der Blitz - »Bitte, rühren Sie den nicht an, vielen Dank, Mrs. Sax, vielen Dank« -, und fünfzehn Sekunden später stand sie wieder draußen auf dem Flur.
    Er hatte nur einen Besucher: den Collegearzt, der zweimal zu ihm kam, jeweils ungefähr eine Viertelstunde blieb und dann wortlos wieder verschwand.
    In der ersten Woche nahm er sämtliche Mahlzeiten in seinem Zimmer ein - nicht, daß er viel aß, wie Oliver Bickerdyke, der in der Küche arbeitete, berichtete; er brachte ihm dreimal täglich ein Tablett hinauf, nur um es eine Stunde später nahezu unberührt wieder abzuholen. Bickerdykes großer Coup, der für mindestens eine Stunde Gesprächsstoff am Kohleofen in der Pförtnerloge lieferte, bestand darin, daß er den jungen Mann bei der Arbeit an seinem Schreibtisch überraschte, mit einem Mantel über dem Schlafanzug, einem Schal und Handschuhen. Normalerweise hielt Jericho die schwere äußere Eichentür seines Arbeitszimmers fest geschlossen - er hatte höflich darum gebeten, sein Tablett draußen abzustellen. Aber an diesem speziellen Morgen, sechs Tage nach seiner dramatischen Ankunft, stand sie einen Spaltbreit offen. Bickerdyke klopfte ganz bewußt so leise an, daß kein lebendes Wesen, vielleicht mit Ausnahme einer grasenden Gazelle, es hätte hören können, und schon war er über die Schwelle und bis auf einen Meter an seine Beute heran, bevor Jericho sich umdrehte. Bickerdyke hatte gerade noch Zeit, Stapel von Papieren wahrzunehmen (»mit Zahlen und Schaltplänen und griechischen Buchstaben und so«), bevor die Arbeit hastig zugedeckt und er hinausgescheucht wurde. Von da an war die Tür immer verschlossen.
    Als Dorothy Saxmundham am nächsten Nachmittag Bikkerdykes Geschichte hörte, wollte sie sich nicht übertrumpfen lassen und fügte ein eigenes Detail hinzu. Mr. Jericho hatte eine kleine Gasheizung in seinem Wohnzimmer und einen Kamin in seinem Schlafzimmer. In diesem Kamin, den sie am Morgen saubergemacht hatte, war offensichtlich Papier verbrannt worden.
    »Könnte die Times gewesen sein«, meinte Kite dazu. »Ich lege ihm jeden Morgen ein Exemplar vor die Tür.«
    Nein, erklärte Mrs. Sax. Es war nicht die Times. Die Zeitungen lagen noch gestapelt neben dem Bett. »Er scheint sie nicht zu lesen, soweit ich sehen konnte. Er löst nur das Kreuzworträtsel.«
    Bickerdyke meinte, er könnte Briefe verbrannt haben.
    »Vielleicht Liebesbriefe«, fügte er mit anzüglichem Grinsen hinzu.
    »Liebesbriefe? Der? Kann ich mir nicht vorstellen.« Kite nahm seinen uralten Bowler ab, inspizierte die abgeschabte Krempe und setzte ihn bedächtig wieder auf seinen kahlen Kopf. »Außerdem hat er keine Briefe bekommen, keinen einzigen, seit er hier ist.«
    Und so sahen sie sich zu dem Schluß gezwungen, daß das, was Jericho im Kamin verbrannt hatte, seine Arbeit war - so geheime Arbeit, daß niemand auch nur Bruchstücke ihres Abfalls sehen durfte. Mangels eindeutiger Fakten wurden nun endlose Vermutungen angestellt. Er war ein Wissenschaftler im Dienst der Regierung, entschieden sie. Nein, er arbeitete für den Geheimdienst. Nein, nein - er war ein Genie. Er hatte einen Nervenzusammenbruch. Seine Anwesenheit in Cambridge war ein Staatsgeheimnis. Er hatte Freunde in hohen Positionen. Er war von Mr. Churchill empfangen worden. Er war vom König empfangen worden…
    Und mit all diesen Spekulationen lagen sie absolut und vollkommen richtig, nur hatten sie nicht das Glück, es zu erfahren.
    Drei Tage später, am Freitag morgen, dem 26. Februar, erhielt das Geheimnis neue Nahrung.
    Kite sortierte die Morgenpost und verteilte einen kleinen Haufen von Briefen auf die wenigen Fächer, deren Besitzer noch im College wohnten, als er auf nicht nur einen, sondern drei Umschläge mit der Aufschrift T. R. G. Jericho Esq. stieß, die ursprünglich c/o The White Hart Inn, Shenley Church End, Buckinghamshire, adressiert und an das King´s College nachgesandt worden waren. Einen Augenblick lang war Kite verblüfft. War der merkwürdige junge Mann, für den sie sich eine so exotische Identität ausgedacht hatten, in Wirklichkeit der Geschäftsführer eines Lokals? Er schob sich die Brille auf die Stirn, hielt den Umschlag auf Armeslänge von sich und schaute blinzelnd auf den Poststempel.
    Bletchley.
    An der hinteren Wand der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher