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Engelsstimme

Engelsstimme

Titel: Engelsstimme
Autoren: Arnaldur Indridason
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den Mann, ins Dezernat zu kommen und alles zu Protokoll zu geben. Dann rief er Elínborg an und gab ihr Anweisungen. Er stellte das Handy ab und wandte sich wieder Stefanía zu, die Guðlaugurs Platte aufgelegt hatte.
    »Manchmal waren früher«, sagte sie, »wenn diese Platten aufgenommen wurden, gewisse Nebengeräusche zu hören, weil man nicht sonderlich sorgfältig arbeitete. Die Aufnahmetechnik war noch nicht so gut und auch nicht die Studios. Man kann sogar den Straßenverkehr hören. Wusstest du das?«
    »Nein«, sagte Erlendur und hatte keine Ahnung, worauf sie hinaus wollte.
    »Das kann man beispielsweise bei dieser Platte hören, wenn man darauf achtet. Ich glaube aber, dass nur die das bemerken, die davon wissen.«
    Sie stellte den Apparat lauter. Erlendur lauschte konzentriert, und mitten im Lied hörte er ein anderes Geräusch.
    »Was ist das?«, fragte er.
    »Das ist Papa«, sagte Stefanía.
    Sie spielte die Passage wieder, und jetzt hörte Erlendur das Nebengeräusch deutlich, ohne zu wissen, was es war.
    »Ist das euer Vater?«, fragte Erlendur.
    »Er sagt ihm, dass er eine Engelsstimme hat«, sagte Stefanía und schien mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein. »Er stand in der Nähe des Mikrofons und konnte sich nicht zurückhalten.«
    Sie schaute Erlendur an.
    »Mein Vater ist gestern Abend gestorben«, sagte sie. »Er hatte sich nach dem Abendessen etwas auf dem Sofa hingelegt und schlief ein, und aus diesem Schlummer ist er nicht mehr erwacht. Als ich ins Wohnzimmer kam, habe ich sofort gewusst, dass er tot war. Ich habe es gespürt, bevor ich ihn berührt habe. Der Arzt sagt, es war ein Herzinfarkt. Deswegen bin ich hier zu dir ins Hotel gekommen, um reinen Tisch zu machen. Das alles spielt keine Rolle mehr. Nicht für ihn, und auch nicht mehr für mich. Nichts von alledem spielt noch eine Rolle.«
    Sie spielte den kleinen Ausschnitt ein drittes Mal, und jetzt glaubte Erlendur zu hören, was dort gesagt wurde, nur ein Wort, das wie eine Fußnote zu dem Gesang war.
    Engelsstimme.
    »Ich bin an dem Tag, als er ermordet wurde, hier unten zu ihm in den Keller gegangen, um ihm zu sagen, dass Papa ihn sehen und sich mit ihm versöhnen wollte. Ich hatte ihm nämlich gesagt, dass Gulli den Schlüssel zu unserem Haus aufbewahrt hatte und sich manchmal heimlich ins Haus geschlichen und im Wohnzimmer gesessen hatte, ohne dass wir ihn bemerkten. Ich wusste nicht, wie Gulli darauf reagieren würde, ob er Papa treffen wollte, oder ob es hoffnungslos wäre, sie auszusöhnen, aber ich wollte es versuchen. Die Tür zu seinem Zimmer stand offen …«
    Ihre Stimme zitterte.
    »… und dort lag er in seinem Blut …«
    Sie blieb eine Weile stumm.
    »… in diesem Kostüm … die Hosen heruntergelassen … alles voller Blut …«
    Erlendur ging zu ihr hin.
    »Mein Gott«, stöhnte sie, »nie in meinem Leben habe ich … das war entsetzlicher, als Worte es ausdrücken können. Ich weiß nicht, was ich gedacht habe. Ich hatte solche Angst. Ich glaube, ich habe nur an eins gedacht, so schnell wie möglich wegzukommen und zu versuchen, das alles zu vergessen. Wie alles andere. Ich habe mir einzureden versucht, dass mich das nichts anginge. Dass es egal war, ob ich dort war oder nicht, das war alles passiert und ging mich nichts mehr an. Ich habe das wie ein Kind von mir fern zu halten versucht. Ich wollte nichts davon wissen und habe meinem Vater nicht gesagt, was ich gesehen hatte. Ich habe niemandem etwas davon gesagt.«
    Sie schaute Erlendur an.
    »Ich hätte um Hilfe rufen sollen. Ich hätte natürlich die Polizei rufen sollen … aber … das war so ekelhaft, so pervers … dass ich einfach weggelaufen bin. Das war das Einzige, woran ich denken konnte. Bloß weg von hier. Von diesem Ort des Grauens zu fliehen und von niemandem gesehen zu werden.«
    Sie schwieg eine Weile.
    »Ich glaube, dass ich immer vor ihm geflohen bin. Irgendwie immer vor ihm weggelaufen bin. Die ganze Zeit. Und dort …«
    Sie weinte leise vor sich hin.
    »Wir hätten schon vor langer Zeit versuchen können, das Ganze ins Reine zu bringen. Ich hätte das schon längst getan haben sollen. Darin besteht mein Versagen. Papa wollte es zum Schluss auch, bevor er starb.«
    Sie schwiegen. Erlendur schaute zum Fenster hinaus und bemerkte, dass das Schneetreiben nachgelassen hatte.
    »Das Entsetzlichste war …«
    Sie verstummte, weil die Vorstellung sie überwältigte.
    »Er war noch nicht tot, war es das?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Er sagte ein
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