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Engelsstimme

Engelsstimme

Titel: Engelsstimme
Autoren: Arnaldur Indridason
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an mir verdienen. An mir wollten früher alle verdienen, nicht zuletzt Papa, und das hat sich kein bisschen geändert. Kein bisschen.«
    Sie blickten einander lange an.
    »Komm nach Hause und sprich mit Papa«, sagte sie. »Er wird nicht mehr lange leben.«
    »Hat Wapshott mit ihm gesprochen?«
    »Nein, er war nicht zu Hause, als Wapshott kam. Ich habe Papa von ihm erzählt.«
    »Und was hat er dazu gesagt?«
    »Nichts. Nur, dass er seinen Anteil haben wollte.«
    »Und was ist mit dir?«
    »Mit mir?«
    »Warum bist du immer bei ihm geblieben? Warum hast du nie geheiratet und eine eigene Familie gegründet? Das ist nicht dein Leben, was du lebst, sondern seins. Wo ist dein Leben?«
    »Wahrscheinlich hinter dem Rollstuhl, in den du ihn gebracht hast«, stieß Stefanía hervor. »Untersteh dich, nach meinem Leben zu fragen.«
    »Er hat dieselbe Macht über dich wie früher über mich.«
    Der Zorn stieg in Stefanía hoch.
    »Irgendjemand musste sich um ihn kümmern. Sein Augenstern, sein Star war ein Schwuler, der ihn die Treppe hinuntergestoßen hat und seitdem nicht gewagt hat, mit ihm zu reden. Sitzt lieber nachts zu Hause bei ihm herum und schleicht sich weg, bevor er aufwacht. Was für eine Macht hat er über dich? Du glaubst, dass du ihn ein für alle Mal losgeworden bist, aber sieh dich an! Sieh dich doch endlich einmal an! Was ist aus dir geworden? Sag mir das! Du bist ein Niemand! Eine verkrachte Existenz!«
    Sie verstummte.
    »Entschuldige«, sagte er, »ich hätte nicht davon anfangen sollen.«
    Sie antwortete ihm nicht.
    »Hat er nach mir gefragt?«
    »Nein.«
    »Spricht er nie über mich?«
    »Nein, niemals.«
    »Er findet es unerträglich, wie ich lebe. Er findet es unerträglich, wie ich bin. Er findet mich unerträglich. Nach all diesen Jahren.«

    »Warum hast du mir das nicht sofort gesagt?«, fragte Erlendur. »Warum dieses Versteckspiel?«
    »Versteckspiel? Kannst du dir das nicht vorstellen? Ich wollte nicht über meine Familienangelegenheiten reden. Ich glaubte, dass ich uns abschirmen könnte, unser Privatleben.«
    »Hast du da deinen Bruder zum letzten Mal getroffen?«
    »Ja.«
    »Bist du ganz sicher?«
    »Ja.« Stefanía schaute ihn an. »Was willst du damit andeuten?«
    »Hast du ihn nicht mit einem Jungen bei der gleichen Beschäftigung erwischt wie damals, als dein Vater die Beherrschung verlor? Damals war das der Beginn deiner Lebensmisere, und dem wolltest du jetzt ein Ende machen.«
    »Nein. Was …?«
    »Wir haben einen Zeugen.«
    »Zeugen?«
    »Den Jungen, der bei ihm war. Ein junger Mann, der deinem Bruder gegen Bezahlung gewisse Gefälligkeiten erwiesen hat. Du hast sie in dem Kellerloch überrascht, der Junge hat das Weite gesucht, und du bist auf deinen Bruder losgegangen. Hast ein Messer auf dem Tisch liegen sehen und hast ihn attackiert.«
    »Das ist nicht wahr«, sagte Stefanía, die spürte, dass es Erlendur ernst war mit dem, was er gesagt hatte, dass sich der Verdacht jetzt gegen sie richtete. Sie starrte Erlendur an, als traute sie ihren Ohren nicht.
    »Es gibt einen Zeugen …«, begann Erlendur, konnte aber den Satz nicht zu Ende bringen.
    »Was für einen Zeugen, über welchen Zeugen redest du eigentlich?«
    »Leugnest du, deinen Bruder getötet zu haben?«
    Das Zimmertelefon klingelte, und noch bevor Erlendur abheben konnte, begann sein Handy in der Jackentasche ebenfalls zu klingeln. Er entschuldigte sich bei Stefanía, die ihm einen Blick zuwarf.
    »Ich muss das Gespräch entgegennehmen.«
    Stefanía wandte sich ab, und er sah, wie sie eine von Guðlaugurs Platten aus der Hülle nahm. Während Erlendur den Hörer des Zimmertelefons abnahm, betrachtete sie die Platte. Sigurður Óli war in der Leitung. Erlendur nahm das Gespräch auf dem Handy entgegen und bat um einen Augenblick Geduld.
    »Mich hat da ein Mann wegen des Mordes im Hotel angerufen, und ich habe ihm deine Handynummer gegeben«, sagte Sigurður Óli. »Hat er dich schon erreicht?«
    »Da ist jemand bei mir auf dem Handy«, sagte Erlendur.
    »Meines Erachtens haben wir den Fall geklärt. Sprich mit ihm, und dann melde dich wieder. Ich schicke drei Wagen hin, Elínborg wird mitkommen.«
    Erlendur legte auf und griff wieder nach dem Handy. Er kannte die Stimme nicht, aber der Mann stellte sich vor und begann dann zu erzählen. Kaum hatte er angefangen, wurde Erlendurs Verdacht bestätigt, und er begriff die ganzen Zusammenhänge. Sie sprachen eine ganze Zeit miteinander, und am Ende des Gesprächs bat Erlendur
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