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Engelsstimme

Engelsstimme

Titel: Engelsstimme
Autoren: Arnaldur Indridason
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anzog und ihren Schmuck trug. Ich glaubte nicht, dass es unnatürliche Gefühle waren. Aber dann kam etwas ganz anderes zutage.«
    »Unnatürliche Gefühle?«, sagte Erlendur. »Ist das deine Einstellung dazu? Dein Bruder war homosexuell. Hast du ihm das nicht vergeben können? Hast du deswegen die ganzen Jahre keine Verbindung zu ihm gehabt?«
    »Er war noch sehr jung, als unser Vater ihn einmal mit einem gleichaltrigen Jungen überrascht hat, als sie Dinge getrieben haben, die ich nicht beschreiben möchte. Ich wusste, dass er mit diesem Freund auf seinem Zimmer war, ich glaubte, sie würden zusammen lernen. Papa kam unerwartet nach Hause und suchte nach irgendwas, er ging in Gullis Zimmer und platzte in diese scheußliche, diese monströse Szene hinein. Er hat mir nie genau sagen wollen, was da los war. Als ich aus meinem Zimmer kam, sah ich, wie der Junge die Treppe hinuntersauste, die Hose hing ihm noch halb herunter. Papa und Gulli standen auf dem Flur und schrien einander an, und dann sah ich, wie Gulli ihm einen heftigen Stoß versetzte. Papa verlor das Gleichgewicht und stürzte die Treppe hinunter. Er ist nie wieder aufgestanden.«
    Stefanía drehte sich wieder zum Fenster und sah zu, wie der Weihnachtsschnee zur Erde rieselte. Erlendur schwieg und überlegte, was sie wohl dachte, wenn sie sich so wie jetzt in sich zurückzog. Er wusste es nicht, glaubte jedoch, eine Art Antwort zu bekommen, als sie das Schweigen endlich wieder brach.
    »Mir hat nie jemand Aufmerksamkeit geschenkt«, sagte sie. »Alles, was ich tat, war Nebensache. Ich sage das nicht aus Selbstmitleid, ich glaube, diese Zeiten sind längst vorbei. Eher, weil ich versuche, zu verstehen und zu erklären, weswegen ich seit diesem Tag nie wieder Verbindung zu ihm aufgenommen habe. Manchmal glaube ich, dass ich einfach froh darüber war, wie alles gelaufen ist. Kannst du dir das vorstellen?«
    Erlendur schüttelte den Kopf.
    »Als er weg war, stand ich plötzlich im Mittelpunkt, nicht er. Nie wieder er. Und auf eine seltsame Weise war ich glücklich darüber und froh, dass er nicht dieser große Kinderstar wurde, der er hätte werden sollen. Ich nehme an, dass ich ihn die ganze Zeit beneidet habe, um die Aufmerksamkeit, die er bekam, und um die Stimme, die er als Kind hatte. Sie war übernatürlich schön. Es war, als wäre er mit all diesen Talenten gesegnet, während ich völlig talentlos war und auf dem Klavier herumhämmerte wie ein Trampel. So hat mein Papa sich ausgedrückt, als er versuchte, mir Klavierunterricht zu geben. Er sagte, ich sei völlig untalentiert. Trotzdem schaute ich zu ihm auf, denn ich glaubte, er hätte immer in allem Recht. Er war oft gut zu mir, und nachdem er völlig hilflos geworden war, besaß ich zumindest das Talent, für ihn zu sorgen, und das bedeutete natürlich alles für ihn. Und so vergingen die Jahre, eines nach dem anderen, ohne dass sich irgendetwas änderte. Gulli hatte uns verlassen, Papa war gelähmt, und ich sorgte für ihn. Ich habe niemals an mich selber gedacht, was ich selber wollte. So können die Jahre vergehen, ohne dass man irgendetwas anderes macht, als in den festen Bahnen zu leben, die man sich selber gesetzt hat. Jahr für Jahr für Jahr.«
    Sie schwieg eine Weile und starrte in den Schnee hinaus. »Wenn man dann auf einmal zu spüren beginnt, dass das womöglich alles gewesen sein soll, was man im Leben erreicht hat, fängt man an zu hassen – und nach einem Sündenbock zu suchen. Und ich fand plötzlich, dass mein Bruder die Schuld an allem trug. Mit der Zeit begann ich ihn zu hassen, ihn und seine perversen Neigungen, die unser Leben zerstört hatten.«
    Erlendur wollte etwas sagen, aber sie sprach weiter.
    »Ich weiß nicht, wie ich das besser beschreiben soll. Wenn man sich in sein eigenes, monotones Leben vergräbt, wegen etwas, das sich dann viele Jahre später als völlig unbedeutend herausstellt und überhaupt keine Rolle mehr spielt. Und in der Tat völlig belanglos ist.«
    »Soweit wir verstanden haben, hat er es so aufgefasst, dass er seiner Jugend beraubt worden ist«, sagte Erlendur. »Dass er nicht der sein durfte, der er sein wollte, sondern gezwungen wurde, etwas ganz anderes zu sein; Solist, Kinderstar. Er bekam das zu spüren, als er in der Schule deswegen gehänselt wurde. Und dann scheitert das Ganze! Hinzu kommen ›unnatürliche Gefühle‹, wie du es ausdrückst. Ich glaube, dass es ihm alles andere als gut gegangen ist. Vielleicht wollte er diese ganze
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