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Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman
Autoren: Wallstein Verlag
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    Ich lege die Fotos, die sie mir vererbt hat, auf meinen Schreibtisch. Großmutters Gefühle drängen in ihren jungen Jahren nach außen. Sie blickt mit dem Selbstbewusstsein einer Großbauerntochter in die Kamera. Ihr mühsam gezähmter Übermut und ihr Stolz sind beinahe greifbar. In den zwanziger Jahren trägt sie helle Kleider und gemusterte Blusen, deren Kragen allesamt mit Spitzen gesäumt sind. Nach einigen Fehlgeburten wirkt sie ernster und fülliger. Als verheiratete Frau trägt sie zu besonderen Anlässen dunkle Kleider mit Baumwollstrümpfen oder elegante Kostüme mit Ledertaschen, Lederhandschuhe und Maßschuhe. Im Sommer versucht sie ihre dünnen Haare mit Strohhüten zu verdecken und ihr strenges Gesicht ein wenig zu beschatten, wie sie mir einmal erzählte. Da war ich noch stolz, sagte sie, aber schon gealtert von der Arbeit, der Schinderei.
    Nach dem Krieg glühen Großmutters Augen nach innen. Ihr Lächeln wirkt müde, erschöpft, nie wieder lebhaft. Ihre Körperhaltung hat im Vergleich zu früher die Sicherheit verloren. Die Strohhüte werden durch Kopftücher ersetzt, die sie exakt unter dem Kinn bindet, damit die Kopftuchzipfel steif von ihrem Hals wegragen. Auf ihre eleganten Kopftücher aus glänzender Viskose oder aus Seide bildet sie sich was ein. Sie hat stark abgenommen und trägt unter den Kostümen Wollwesten oder Gilets, weil ihr immerzu kalt ist. Auf den Hochzeitsfotos wirkt sie mit ihrem kantigen Gesicht und ihrer großen Nase wie ein Widerhaken in der fröhlichen Gesellschaft, wie ein Überbleibsel aus der Vergangenheit, das sich nicht in die Gegenwart fügen will. Ihre Gestalt erweckt den Anschein, als ob sie mehrmals aus dem Leben hinausgedrängt, dann aber doch zurückgeholt worden wäre, das Leben wiederaufgenommen hätte, wenn nicht aus Freude, so doch aus Ergebenheit, nicht aus tiefster Überzeugung, sondern aus Pflicht.
    Zu Hause trägt Großmutter ein Baumwollkopftuch im Nacken geknotet, abgetragene Kleider, Wollstrümpfe und gemusterte Schürzen, die nur an Sonn- und Feiertagen gegen schwarze Satinschürzen und elegantere Blusen ausgewechselt werden. Früher einmal glaubte sie, etwas darstellen zu müssen, später bin ich mir wie durchgestrichen vorgekommen, sagt sie. Die Fotos zeigen auch Vaters Metamorphose vom Kind zum Jugendlichen. Wie sich sein Gesicht nach Großmutters Verhaftung und nach dem Polizeiverhör veränderte, wie das Kindliche sich in etwas Hartes, Bitteres und Verstocktes zurückzog und verschwand, wie die Verwundung in Vater Platz genommen hat und ihn wie ein Fremdkörper besetzte.
    Einmal erzähle ich Tonci von Großmutters Lagerheft und von meinem ratlosen Kreisen in der Familienvergangenheit. Er hört es gern und bringt mir einen Ordner mit der Bemerkung, er glaube, Großmutters Unterlagen seien bei mir gut aufgehoben.
    Unter alten Rechnungen und Briefen finde ich im Ordner Großmutters Schulzeugnis von 1914, in dem vermerkt wird, dass sie 256 entschuldigte Halbtage Unterricht versäumt hatte und 23 unentschuldigte Halbtage fehlte. Wie viele Tage ist sie überhaupt zur Schule gegangen? Ich finde die Erkenntnis des Landesgerichts Klagenfurt vom Dezember 1947 über die Rückstellung der im Deutschen Reich beschlagnahmten Liegenschaft an ihren rechtmäßigen Besitzer, an meinen Großvater Michael, darunter Großmutters Ravensbrücklöffel und ihre Wohnsitzbescheinigung, Certificate of Residence , ausgestellt an ihrem 41. Geburtstag, am 6. September 45, nach ihrer Rückkehr aus dem Konzentrationslager; weiters die Briefe ihrer Freundinnen aus dem Lager, Großmutters Ansuchen um Gewährung einer Opferrente aus dem Jahr 1950, den Bescheid der Kärntner Landesregierung, dass ihr Ansuchen auf Zuerkennung einer Opferrente von der Kärntner Kommission abgewiesen worden sei, da nach dem eingeholten amtsärztlichen Gutachten bei ihr eine Gesundheitsschädigung im vorgeschriebenen Maße nicht festgestellt werden konnte; dann Großmutters Einspruch gegen diesen Bescheid, von einem Schreibkundigen verfasst, die Aufzählung der Leiden, an denen sie infolge des Lageraufenthalts litte, nervöse Störungen, Atemnot, geschwollene, schmerzende Beine und Gelenke, sie sei tagelang arbeitsunfähig, schwere Kopfschmerzen, heftige Krämpfe während der Menstruation, von alldem habe sie schon dem diensthabenden Gendarmeriebeamten erzählt, der den Erhebungsbericht verfasst hatte, vermerkt sie, und ich stelle mir die Situation vor, in der Großmutter einem unbeteiligten,
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