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Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman
Autoren: Wallstein Verlag
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gesungen und gelacht, es sei ein Theater gewesen, sagt er. Die Feier habe ihn so erschöpft, dass er wahrscheinlich sterben werde. Ich solle doch nachschauen, wie viele Flaschen Wein er mittlerweile geschenkt bekommen hatte. Ich gehe ins Hinterzimmer und zähle die Flaschen. Dreiunddreißig, sage ich. Da werde ich aber noch lange leben müssen, lächelt Vater gequält.
    Am nächsten Morgen sagt mir mein Bruder am Telefon, Vater ist tot. Er sei in den frühen Morgenstunden gestorben.
    Als ich nach Hause komme, liegt Vater im schwarzen Anzug auf dem Krankenbett. Mutter hat ihn gewaschen und angekleidet. Sie steht vom Krankenbett auf, als ich eintrete, und weist mit der Hand auf den Toten. Da ist er, sagt sie weinend. Er hat es überstanden.
    Die Gemeinde gestattet uns, Vater im Haus aufzubahren. Eine letzte Ausnahme.
    Als der Sarg zugestellt wird, kommt Pepi, bleibt auf der Türschwelle stehen und spricht ein altes Abschiedsgebet, das nur noch er vorzubeten weiß. Er baut mit meinem Bruder unter dem südlichen Fenster der Stube ein Gerüst für die Aufbahrung. Vater wird in den Sarg gelegt und auf die Bahre gehoben. Ich kämme ein letztes Mal sein Haar. Sein Kopf fühlt sich an, als streichelte ich einen Stein. Mutter verschränkt Vaters Finger und steckt ein hölzernes Kreuz in seine gefalteten Hände.
    Der Sarg mit dem Toten ist überflutet vom vormittäglichen weißen Winterlicht. Die Wohnstube gleicht einem breiten Boot, das bedächtig auf dem offenen Meer treibt. Das gleißende Licht, die verhaltenen Alltagsgeräusche, das Flüstern in der Küche, das stille Weinen, das Schneesonnenlicht, Vaters braunviolette Flecken an den Unterarmen, das Weiß der Todeslaken, der gehäkelte Spitzensaum, die geöffnete Tür, das Klagen des Hundes draußen an der Kette, der den Tod gewittert hat, die langsamen Bewegungen, die endlich freigewordene Behutsamkeit, die sich nicht mehr verstellen will, die lange herbeigesehnte.
    Noch ist der Raum nicht gefüllt mit den Totenwächtern, mit Blumen und Kränzen und Kerzen, noch haben wir Zeit, den Verstorbenen an uns zu ziehen, um ihn später freizulassen. Niemand weiß, wann er sich vom Toten trennen wird, aber jeder geht dieser verborgenen Tätigkeit nach. Ich nutze die Gebetspausen und Stunden, in denen sich Vereinzelte in der Stube aufhalten, um Vaters leblose Gestalt zu betrachten, seine milchig gelbe Haut, die eingefallenen Augen. Er scheint mitten im letzten Atemzug erstarrt zu sein und sich geängstigt zu haben. Er wirkt, als ob er den einen, letzten Atemzug in sich behalten, ihn eingefroren, aufgespart hätte, den entscheidenden Atemzug aufgehoben hätte für später, für irgendwann.
    An den folgenden zwei Tagen strömen die Menschen ins Haus, um von Vater Abschied zu nehmen. Wir sind mit der Bewirtung der Besucher beschäftigt, die uns mit ihrer Anwesenheit auch helfen, Fassung zu bewahren.
    Am Abend vor dem Begräbnis setzt sich Mutter zu mir an die Bahre. Sie legt wortlos ihre Hand auf meinen Oberschenkel und lehnt ihre Schulter an mich, eine schwesterliche Geste. Ist sie als Schwester zu mir zurückgekehrt, denke ich und will sie umarmen. Ist schon gut, sage ich, als sie wieder aufsteht und in die Küche geht.
    An Vaters Begräbnistag erscheinen frühmorgens die Sargträger. Es sind die Jäger aus Lepena. Wir essen neben dem Verstorbenen, dessen Sarg mittlerweile verschlossen wurde, noch eine Suppe. Pepi spricht wieder das alte Gebet. Der Sarg wird zum Wohnzimmerfenster hinausgeschoben und auf die Hausschwelle gelegt. Der Tote wird aufgefordert, sich von seinem Heim und von seiner Familie zu trennen. Mit langsamen Schritten wird er über den Hof getragen und wieder wird er aufgefordert, sich von seinen Wiesen, Äckern und Hängen loszusagen.
    Als die Totengräber nach der Messe Vater in die Grube gleiten lassen und der Sarg auf dem Boden ankommt, glaube ich ein Ausatmen zu hören, das entweder aus mir oder aus dem Sarg schnellt. Ein Ausatmen, das aus einem dunklen, kleinen Rachen regelrecht hervorbricht und sich in die Weite sprengt. Ich blicke erschrocken ins Grab. Ist es mein Aufatmen oder das von Vater, ist es meine Erleichterung darüber, seinen Tod endlich hinter mich gebracht zu haben, oder ist es Vaters gestockter, aufgesparter, geknebelter Atem, der sich nun Luft verschafft, der sich aus jeglicher Umklammerung löst und davonschwebt?
    Einverstanden, ich bin einverstanden, denke ich auf der Fahrt in die Stadt.
    * * *

Ich träume, dass das Gebiet, aus dem ich fliehe,
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