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Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman
Autoren: Wallstein Verlag
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nicht sterben könnten, er mache das ungern, er würde es nur aus Freundschaft erledigen, er müsse sich sehr überwinden, es sei kaum zu machen.
    Ich wende mich ab, ich will nichts mehr sehen.
    Gleich darauf wird die sterbende Kuh mit dem Traktor aus dem Wasser gehievt und gezogen, zur Straße gebracht, das tote Kalb und die Nachgeburt neben sie gelegt, eine Plane über das Elend gebreitet.
    Die Männer gehen nach Hause.
    Vater sagt, er wolle nicht mehr, er werde es Mutter nie verzeihen, dass sie die Kuh auf der Weide gelassen hatte, sogar Pepi habe geweint, als er das Tier erschießen musste.
    Als Mutter nach Hause kommt, ist es schon dunkel. Sie steigt vom Moped und eilt in die Küche, sie habe die tote Kuh mit dem Kalb neben der Straße gesehen und angehalten, stößt sie hervor, die Kuh mit dem Namen gerufen, das Tier habe den Kopf gehoben und sie angeschaut, mein Gott, sie sei einem Gespenst begegnet, sagt Mutter, ihr Herz habe sich zusammengezogen, wie konnte das geschehen!
    Während der Streit der Eltern anschwillt, verlasse ich das Haus.
    Ich fahre langsam die Zubringerstraße hinunter.
    Das Anwesen ist in Schwärze getaucht. Der Wald scheint in die Tiefe abzurutschen, das Rauschen des Baches ist durchsetzt von kleinen Nadeln, die in meinen Ohren schmerzen. Als ich an der zugedeckten Kuh vorbeifahre, halte ich an und steige nicht aus.
    In der Nacht träume ich, dass die Gräben und Lehnen wie das Futter eines Mantels ins Innere des Berges gekehrt werden. Die Dunkelheit, die mich auf dem Weg in die Stadt umgeben hat, dauert im Berg an. Das Tageslicht ist zu kleinen Sonnen gebündelt, die, wie ich weiß, manchmal alles in gleißendes Licht tauchen, und sich dann wieder zurückziehen. Sie bleiben über dem Firmament hängen wie gelbe, gewichtslose Bälle. Ich habe es eilig, nach Hause zu kommen, weil etwas Schreckliches geschehen ist. Ich weiß, dass Mutter in der Stube sitzt und mir helfen könnte. Ich will zu ihr und reiße die Tür auf. Ein furchterregendes Wesen springt mich an, halb Mädchen, halb Echse. Ich schmettere es gegen die Hauswand, gegen den Felsen, gegen den Berg. Ich rufe nach Mutter, aber sie bleibt mir fern. Als ich nicht mehr vom Fleck komme, fange ich an zu schweben und gleite ins Nichts.
    * * *

Die Eltern beschließen die letzte Kuh zu verkaufen. Vater bekommt eine Lungenentzündung und verlässt zwei Wochen lang nicht das Haus. Es sei ihm alles in die Knochen gefahren, sagt Mutter. Sie hätten beschlossen, die Viehwirtschaft aufzugeben, sie müssten sich auf das Notwendigste beschränken, auf das, was sie noch zuwege bringen, sagt sie.
    Vaters Lunge stirbt langsam ab, und mit der knappen Luft schwindet auch sein Gewicht. Nach der überstandenen Lungenentzündung gleicht sein Oberköper einem Käferpanzer, aus dem ein eingezogener Kopf und zwei Arme und Beine als dünne Läufe eines Insekts ragen. Vaters geschwächter Rippenkorb presst sich wie ein Weidengehäuse an das gekrümmte Rückgrat. Seine Schritte verkürzen und verlangsamen sich. Die Falten in seinem Gesicht sind grob gezogen. Die Knochen sind das Markante an Vater, seine spitzen Knie, seine sehnigen, dünnen Unterarme, seine erschöpften Finger. Die Wege, die er noch schafft, werden kürzer und seltener. Er zögert lange, bis er sich dazu aufrafft, in den Wald zu gehen, zum Brennholz Fällen, einen Zaun zu reparieren oder die Schafe, die die Kühe ersetzt haben, in ihre Unterstände zu treiben. Bald schon muss er, wenn er seinen Most aus dem Keller holt oder zu den kranken Bienenvölkern geht, in der Mitte des Hofplatzes stehen bleiben und sich vornüberneigen, weil ihm die Luft ausgegangen ist. Wir reden ihm zu, die handliche Sauerstoffflasche, an die er sich am Abend anschließen lässt, mit sich zu tragen, das würde ihm das Gehen erleichtern, aber er will sich nicht mit seiner Hinfälligkeit abfinden, als ob sie unter seiner Würde wäre. Manchmal, wenn ihm übel geworden ist, hält er sich an einem der Zwetschkenbäume fest, die den Hof umgeben.
    In seinem vorletzten Lebensjahr bekommt Vater aus dem neu gegründeten Österreichischen Nationalfonds für die Opfer des Nationalsozialismus eine symbolische Wiedergutmachung ausbezahlt. Er freut sich vor allem darüber, dass sein Leiden wahrgenommen wurde. Mit dem Geld möchte er den Traktor reparieren lassen, sagt er. Wenn er noch länger zuwarte, werde der Traktor vor ihm den Geist aufgeben.
    Im Frühjahr unternimmt er den letzten vorsichtigen Versuch, einen Apfelbaum zu
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