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Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman
Autoren: Wallstein Verlag
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über jeden freundlichen Menschen freuen, ihn nicht vergessen können, über ihn staunen, er wird sich von Hilfsbereitschaft und Respekt berühren lassen.
    Er wird an den Tod glauben, denn der Tod kann alles verändern wie die Gewalt. Er wird sein Leben zum Fenster hinauswerfen wollen, wie er sagen wird, werfen wir uns zum Fenster hinaus, weg mit uns, weggelacht, weggetrunken, weggearbeitet. Was soll schon passieren, wenn er sturzbetrunken auf seinen Traktor steigt und davonfährt, was soll schon passieren, wenn er das eingekeilte Langholz aus dem unwegsamen Steilhang seilt und sich der Traktor mit den Vorderrädern hebt, was soll schon passieren, wenn er auf nur einem Auge sehend die Kreissäge bedient. Wann wird man ihn endlich bedauern, wann dem, was er leistet, Beachtung schenken?
    Wenn nur nicht diese Lähmung wäre, die ihm von Jahr zu Jahr eine größere Überwindung abverlangt. Er kommt nicht vom Fleck, er weiß nicht, wie den inneren Widerstand bezwingen, wie die Starre, die ihn gefangen hält, besiegen. Wie die Selbstverwitterung durchstehen, wie die Austrocknung seines Körpers ertragen?
    Kaum schwinden seine Kräfte, fangen die Obstbäume an, dürre Zweige zu tragen, ihre Kronen verdichten, die Jahrestriebe vergreisen, die Anzahl der Tiere im Stall nimmt ab, die Pachtwiesen werden zurückgegeben. Kaum lässt er die Waldarbeit ruhen, verkommen die Holzschläge der Bauern zu gerodeten Halden, auf denen das Fällen der Bäume einem Raubzug gleicht.
    Er wird die Jagd aufgeben, wird mit den Jungen nicht Schritt halten können, mit nur einem Auge nicht treffen. Seine Bienenvölker werden von der Milbe befallen werden, der Boden der Stöcke wird übersät sein mit Bienenbeinen und Wachsmüll, mit verstümmelten Tieren. Er wird nach den einzelnen Bienen greifen und ihnen die Milbenbrut von den verkümmerten Flügeln kratzen, ein Hinterleib wird sich vom Rumpf lösen.
    An einem Sommertag wird er seinen Bauernwillen zu Grabe tragen. Ich werde diesen Sonntag mit ihm verbringen.
    * * *

Seine beste Kuh müsste kalben. Mit Mutter konnte er sich nicht einigen, wann das Tier von der Sommerweide geholt und in den Stall gestellt werden soll.
    An diesem Sonntagvormittag will er nach ihr sehen und findet sie nicht, er ruft sie und schreitet die Weide ab, er bemerkt, dass über einem steilen, abfallenden, gefährlichen Abhang der Zaun aufgerissen ist, die Gräser und Büsche geknickt, er ruft mir zu, dass ich mitgehen solle. Wir müssen hinunter, sagt er, die Kuh sei möglicherweise, als die Wehen eingesetzt haben, in die Tiefe gestürzt. Wir rutschen, uns an den Haselbüschen und am wuchernden Geißbart festhaltend, den abschüssigen Hang hinunter zum Bach und finden die Kuh im Wasser liegend, die Füße eingeknickt, das halb aus der Scheide ragende Kalb leblos und kalt, auf dem Weg ins Leben ertrunken, der Geburtsschleim vom Wasser abgewaschen, das glitschige Fell aschfahl, gewässert. Vater stöhnt und zieht das tote Kalb aus der Kuh. Wie lange sie wohl im Wasser gelegen ist, jammert er, wie lange wohl. Das Tier versucht aufzustehen und blickt uns elend an. Vater legt seinen Arm um den Hals der Kuh, steh auf, steh auf, bittet er das Tier, das sich von neuem aufbäumt, aber seine Füße und Fesseln versagen. Sie fiebert, sagt Vater, wir müssen Pepi holen und sie aus dem Wasser tragen.
    Als Pepi mit dem Traktor vorfährt und erkennt, dass er die Kuh mit Vater allein nicht aus dem Bachbett ziehen kann, werden weitere Nachbarn zu Hilfe gerufen. Vater steht mit den Schuhen im Wasser, nass bis zu den Knien, und zittert. Ich lehne meine Stirn an den Nasenrücken der Kuh und sehe einen zarten weißen Dampf von ihrem bebenden Rücken aufsteigen. Ihre Augen verströmen eine derart tiefe kreatürliche Trauer, dass die Männer das Tier nicht ansehen, weil sie der Anblick an etwas erinnern würde, das sie in diesem Moment nicht ertragen könnten.
    Ich taumle nach Hause und komme mit Gummistiefeln für Vater zum Unglücksort zurück. Die Männer haben inzwischen versucht, die Kuh auf die Beine zu stellen, aber die Verletzungen, die sie sich beim Sturz zugezogen hatte, sind zu schwer. Pepi meint, man werde sie erschießen müssen, es helfe nichts mehr! Vater schnäuzt sich ins Taschentuch. Er weint. Hol den Schussapparat, wir müssen es rasch hinter uns bringen, bittet er Pepi und legt seine Hand auf die krause Stirnwulst der Kuh.
    Pepi holt das Schießgerät, und als er wieder im Wasser steht, sagt er zu Vater, dass kalbende Kühe
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