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Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman
Autoren: Wallstein Verlag
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des Slowenischen unkundigen Gendarmeriebeamten ihre Leiden zu schildern hatte; die Antwort des Sozialministeriums aus Wien, Ende Mai 1951, dass ihr eine Opferrente zuerkannt worden sei, Großmutters Nachfrage vom 6. Oktober 1951, gerichtet an das Amt der Kärntner Landesregierung, warum ihr die Opferrente nicht ausbezahlt werde, ein Schreiben vom November 1953 an die Kärntner Landesregierung, warum ihr die zuerkannte Haftentschädigung nicht überwiesen worden sei, die Antwort der Kärntner Landesregierung, dass der Bescheid über die Auszahlung der Haftentschädigung erst im Oktober 1953 rechtskräftig werde und dem Bundesministerium für soziale Verwaltung zur Auszahlung vorgelegt werde, dann, eine Seite später, überraschend auch der von Urgroßmutter aufgeschriebene Haussegen, der so mächtig ist, dass er Menschen vor Unwetter, Blitz und Donner, vor Hagel und Feuer, vor Verwünschungen, schlechter Nachrede und vor der Pest behüten könne, vor allem anderen jedoch nicht.
    Die Schutzbarrieren, die ich zwischen mir und meiner Familie aufzuschichten versuchte, brechen erneut ein. Einen Moment lang fürchte ich, vom Vergangenen gänzlich überrollt zu werden, mich unter seinem Gewicht zu verlieren. Dann beschließe ich, das Versprengte, Erinnerte und das Erzählte, das Anwesende und Abwesende in eine geschriebene Form zu bringen, mich aus dem Gedächtnis neu zu entwerfen, mir einen Körper zu erschreiben, der aus Luft und Anschauung, aus Düften und Gerüchen, aus Stimmen und Geräuschen, aus Vergangenem, Geträumtem, aus Spuren zusammengesetzt werden könnte.
    Ich könnte das Unumkehrbare zurückholen und feststellen, dass es in veränderter Form zurückgekehrt ist, dass es sich und mich verwandelt hat. Ich könnte das Auseinandergefallene und Auseinandergestobene neu gliedern, um das Darunter durchscheinen zu lassen. Ich könnte das Gewesene mit einem unsichtbaren Leib umschließen, der es versiegelt und bezwingt.
    * * *

Ich fasse den Entschluss, nach Ravensbrück zu fahren, in das Lager, das ich in meinen Gedanken schon so oft durchquert hatte, dass ich glaube, es zu kennen. Ich will Großmutters Erzählung noch einmal durchschreiten, um von einem vertrauten Ort Abschied zu nehmen.
    Am Tag der Einlieferung von Großmutter ins KZ betrete ich in Fürstenberg an der Havel die Straße der Nationen, die zum Lager führt.
    Die Herbstlandschaft um mich ist abweisend, sie wirkt wie von gestern und ist doch Gegenwart, nichts als Gegenwart. Ich denke an Großmutters Augen, die am Abend des 13. November über diese Landschaft gewandert sein könnten. Hatte sie Zeit dazu, den Endpunkt ihrer Reise zu betrachten, den brandenburgischen, gelbbraunen, grauen Herbst in Augenschein zu nehmen, die gelben Blätter der Birken, die wie Farbwimpel an den Ästen hängen?
    Nach längerem Gehen blitzt zu meiner Rechten der Schwedtsee auf, mit seiner kahlen, regungslosen Oberfläche. Das Kommandanturgebäude steht unversehens vor mir.
    Der erste Blick durch das Lagertor, die Öde, der Platz leergefegt von Baracken, der schwarze Kies, die rostroten Laubblätter, die Lagerstraßen geräumt, eine einsame Pappelallee.
    Der Appellplatz wirkt kleiner als in meiner Vorstellung, fast überschaubar. Ich habe als Kind, während Großmutter erzählte, ein weites Feld gesehen, das sich bis zum Horizont erstreckte, eine Welt aus Häftlingen und Toten.
    Ich umkreise den leeren, eingeebneten Platz des ehemaligen Wirtschaftsgebäudes. Das Bad für die Aufnahmeprozedur, heute ein Grasfleck, die Häftlingsküche, der Appellplatz, heute ein Kiesfeld, der Barackenstandort, heute nichts mehr als ein Rasenstück, Block fünf bis sieben steht auf der Tafel geschrieben, der Sechserblock, der politische, ein Schemen aus Großmutters Erzählung, stand in der Mitte, hinter der Linde, die es damals nicht gab. Der Judenblock elf neben dem Zwölferblock, in der ersten Reihe das Krankenrevier, dahinter der Industriehof, die Schneiderei. Nicht sichtbar und nicht begehbar das Siemens-Gelände für die ordentliche Beschäftigung , das Männerlager, das Zeltfeld, mit den auf das Gas Wartenden. Erhalten geblieben die gemauerte Dreifaltigkeit des Todes, der Zellenbau, heute ein Museum, in dem Katrcas Verse über den Namen der in Ravensbrück ums Leben gekommenen Jugoslawinnen prangen, das Krematorium, das Gräberfeld, die Gaskammer mit einem Gedenkstein markiert.
    In meinen Ohren klingt Großmutters Atmen nach, während sie sprach. Cudno, cudno , was Menschen widerfahren
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