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Engel des Todes

Engel des Todes

Titel: Engel des Todes
Autoren: Michael Marshall
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Gewünschte verkaufen würde, machten ihm Schusswaffen doch Angst. Von einer Klippe springen, sofern es so etwas hier gab, schied auch aus. Die bloße Vorstellung war schon konterrevolutionär. Selbst wenn er im Innern fest entschlossen wäre, könnte ihm sein Körper die Gefolgschaft verweigern, in diesem Fall würde er mit dem Gefühl, der größte Narr auf der Welt zu sein, zum Auto zurückschlurfen. Ja, ich wollte mich in den Abgrund stürzen. Nein, es hat nicht geklappt. Tut mir leid. Aber die Aussicht war toll. Fallen Sie nicht. Außerdem wollte Tom nicht als ein zerschlagenes oder zermatschtes Etwas enden, das fotografiert und dann nach Hause gebracht wurde. Er wollte nicht zerschlagen, er wollte ausgelöscht werden.
    Am Sonntag saß er in Henry’s, dem halbwegs annehmbaren Diner der Stadt, und knabberte an einem riesigen Corned-Beef-Sandwich herum, als er etwas hörte, was für ihn den Ausschlag gab. Ein einheimischer Alter schilderte gerade einem Ruheständlerpaar aus Winnebago, wie groß und undurchdringlich die Wälder ringsum waren. Toms Aufmerksamkeit wurde besonders durch eine mehrfach wiederholte Zahl gefesselt. Dreiundsiebzig. Der Einheimische sagte das mehrmals und mit sichtlichem Vergnügen. Dreiundsiebzig – welche Bewandtnis hatte es damit?
    Die beiden Zuhörer schauten sich an und nickten, als wären sie beeindruckt. Dann wandte sich der Mann mit einer Miene an den Einheimischen, als habe er eine Ungereimtheit in der Schilderung des anderen erkannt.
    »Große oder kleine?«, fragte er. »Welche Größe hatten die Flugzeuge?«
    »Jede Größe«, erwiderte der Alte etwas verstimmt. »Große und kleine, Zivil- und Militärflugzeuge. Es stürzen dauernd Flugzeuge ab, das ist eine Tatsache, viel mehr, als hier in der Gegend heruntergekommen sind. Ich will nur sagen, dass von den Flugzeugen, die seit dem Krieg im pazifischen Nordwesten abgestürzt sind, dreiundsiebzig niemals gefunden wurden.«
    Wenn das wahr ist, dachte Tom.
    Dann hatte er sein Sandwich beiseite geschoben, gezahlt und war so viel Alkohol kaufen gegangen, wie er hatte tragen können.
     
    Er war nicht darauf gefasst, dass es so rasch dunkel wurde. Mehr stolpernd als gehend schleppte er sich mit bleischweren Beinen weiter. Obwohl er vielleicht nur acht, höchstens zehn Meilen zurückgelegt hatte, fühlte er sich erschöpft. Wäre er öfter ins Fitnessstudio gegangen, wäre er zum Sterben in besserer Form gewesen. Bei dem Gedanken musste er so sehr lachen, dass sich ihm der Mund mit warmem Speichel füllte. Er hielt an und atmete tief durch, um den Brechreiz zu überwinden.
    Er war mittlerweile so betrunken wie nur je in seinem Leben. Nach vorn gebeugt, die Hände auf den Knien, starrte er in die verschwimmenden Flecken vor sich und überlegte, was er als Nächstes tun sollte. Verlaufen hatte er sich schon. Dieser Punkt der Aufgabenliste konnte abgehakt werden. Das Gelände war den ganzen Nachmittag über immer bergiger geworden, steil, rutschig und tückisch. Wenn erst die Nacht hereinbräche, würde es wirklich dunkel werden, eine Dunkelheit, die einen Stadtmenschen vollkommen orientierungslos machte. Er schnallte den Rucksack ab und tastete nach der Taschenlampe. Beim Einschalten der Lampe merkte er, dass sich nicht eigentlich das Licht veränderte, sondern dass sich ein feiner Nebel bildete. Außerdem wurde es unglaublich kalt. Im Augenblick war es nur der Schweiß, der auf der Haut zu kaltem Wasser wurde, aber wenn die Kälte einmal bis in die Knochen dränge, dann wäre es schwer auszuhalten. Also musste er weiter in Bewegung bleiben.
    Er drehte den Fuß mit dem schmerzenden Knöchel ein wenig, um ihn aufzuwärmen, änderte leicht die Richtung und ging weiter. Der Wald war nun ganz still, die Vögel hatten genug gekrächzt und schliefen wohl in ihren Nestern. Ob andere Tiere unterwegs waren, konnte er nicht sagen. Er hatte sich schon eine ganze Weile bemüht, nicht an Bären zu denken. Tom glaubte nicht, dass er eine Bedrohung für größere Säugetiere, wenn sie ihm über den Weg liefen, darstellte; außerdem hatte er nichts Essbares bei sich, was sie anlocken könnte, aber vielleicht war das ja alles Mumpitz. Vielleicht lagen sie auf der Lauer und warteten bloß darauf, Zweibeiner wie ihn anzugreifen. Wie dem auch sei, er wollte nicht daran denken und ließ es deshalb bleiben. Die Taschenlampe hatte zwei Stufen, hell und weniger hell, und sehr rasch entschied er sich für Letzteres. Je dichter der Nebel wurde, desto mehr Licht
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