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Engel der Vergessenen

Engel der Vergessenen

Titel: Engel der Vergessenen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Welt nicht mehr. Butoryan zeigte ihm als Stellvertreter Hallers alle Einrichtungen und übernahm es, den neuen Chef allen Mitarbeitern vorzustellen. Die Ambulanz arbeitete auf Hochtouren.
    »Was ist los, Herr Kollege?« fragte Muthesius unsicher. »Wechseln die Stimmungen hier immer so, als wenn man ein Licht an- und ausknipst?«
    »Dr. Haller wollte es so«, antwortete Butoryan. »Sie wissen, was in dem Brief von Fräulein Berndorf steht? Kalewa hat es mir berichtet.«
    Muthesius strich sich verlegen über die Haare. »Ich weiß es auch von Dr. Kalewa. Gelesen habe ich den Brief nicht.«
    »Und wie stellen Sie sich dazu?«
    »Wozu?«
    »Daß Dr. Haller das Opfer eines primitiven Racheaktes geworden ist. Daß er unschuldig ist.«
    »Das muß ihm erst ein Gericht bestätigen.« Man sah Muthesius an, daß ihm das Gespräch sehr peinlich war. »Wird das Urteil annulliert – eine gute Sache für den Kollegen Haller.«
    »Es freut mich, daß Sie Dr. Haller wieder als Kollegen titulieren«, sagte Butoryan steif und ließ Muthesius stehen. Aber an der Tür blickte er noch einmal zurück. Der neue Chefarzt stand wie verloren mitten im OP und schnalzte nervös mit den Fingern.
    »Warum darf Dr. Haller nicht in Nongkai bleiben?«
    »Er hat seine Aufgaben erfüllt, man hat ihn entlastet, er hat das Recht, sich auszuruhen. Bei seinem Zustand …« Dr. Muthesius suchte nach Worten. »Was soll er noch hier?«
    »Natürlich.« Dr. Butoryans Brille rutschte wieder über die Nase. »Ich habe gewußt, daß Sie das nie verstehen können.«
    Sieben Tage lang suchte man Siri.
    Donyan ließ kleine Gruppen seiner Soldaten den Dschungel durchkämmen, auch wenn es Blödsinn war, denn wenn sich Siri auf einem der turmhohen Bäume versteckt hielt, sah sie niemand vom Erdboden aus. Man rief mit Megaphonen in den Sumpfwald hinein – was antwortete, war das Kreischen der Vögel und anderer Tiere.
    Fünf Tage lang ließ sich Haller mit dem Motorboot über den Nongnong fahren, immer hin und her. Er saß, von Pala oder Singhpur gestützt, vorn auf der Bank. Er tat nichts, er saß nur da und wollte, daß Siri ihn sah. Er wollte zeigen, daß er Nongkai nie verlassen würde, er wollte mit seinem Anblick Siris Herz rühren und sie aus dem faulig riechenden, undurchdringlichen grünen Sumpf herauslocken. Aber Siri rührte sich nicht. Irgendwo in dieser grandiosen grünen Fruchtbarkeit hockte sie, blickte zu Haller hinab und schlug die Hände vor das Gesicht, um dem stummen Schrei, der von diesem Mann ausging, zu entfliehen.
    Als Haller seine Suche aufgab, kroch sie durch die Erdröhre zurück ins Dorf und versteckte sich bei einem taubstummen Leprösen, der ihr durch Handschlag Verschwiegenheit geloben mußte.
    Am achten Tag sagte Oberst Donyan mit aller Vorsicht: »Doc, Ihr Flugzeug wartet in Homalin. Es steht schon zwei Tage da. Ich kann es nicht länger festhalten.«
    »Dann sprengen Sie es in die Luft!« Haller saß in seinem Rollstuhl, und wer ihn vor einer Woche gesehen hatte, erschrak über ihn. Er war zusammengefallen und abgemagert, tiefe Schatten lagen unter seinen Augen.
    »Ich fahre nicht ohne Siri. Das ist mein letztes Wort.«
    »Ihr vorletztes, Doc.« Donyan blinzelte hilfesuchend zu Dr. Butoryan hinüber. Verdammt, helft mir doch! Er will nicht verstehen, daß sich Nongkai geändert hat. Es hatte schon vor Tagen begonnen, als Dr. Muthesius das Dorf besichtigte und sichtlich entsetzt war über alles, was Haller so liebgewonnen hatte.
    »Diese Hütten«, entsetzte sich Dr. Muthesius, »und die Ställe, die daran kleben! Hühner, Schweine, Ziegen zusammen mit den Leprösen – das ist eine Sauerei! Das wird geändert! Es werden außerhalb des Krankenbereichs Gemeinschaftsställe gebaut! Das erste, um das man sich hier kümmern muß, ist Ordnung!«
    Haller erlebte es noch, wenn er von seinen Fahrten auf dem Nongnong erschöpft nach Nongkai zurückkehrte: Sein Lepradorf wurde mit deutscher Gründlichkeit zu einer unpersönlichen, sterilen Heilstätte umgewandelt. Als die deutschen Ärzte begannen, für alle Patienten Nummern auszugeben und jeder seine Nummer deutlich sichtbar an der Kleidung tragen mußte, hob Haller resignierend die Schultern.
    »Jetzt sind es ›Fälle‹ geworden«, sagte er leise. »Lebende Karteikarten, Krankenblätter auf zwei Beinen, Donyan. Hat mich die Zeit unmerklich überrollt? Gehöre ich nicht mehr in diese Welt? Sehen Sie sich das an. Die Familie Hanosaya – Nummer 231 bis 236! Der einäugige Bunya – Nummer
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