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Engel der Vergessenen

Engel der Vergessenen

Titel: Engel der Vergessenen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Man hatte seine Papiere nicht überprüft, seine Zeugnisse nicht gelesen, niemand hatte sich dafür interessiert, was dieser Dr. Haller in den letzten Jahren getan hatte. Es genügte, daß er bewies, ein deutscher Arzt zu sein, und bereit war, in den Norden zu fliegen, um im Hospital ›Jesus am Kreuz‹ als Stationsarzt zu arbeiten. Das Krankenhaus lag in einem Ort, der Nongkai hieß. Es mußte ein kleiner Ort sein. Dr. Haller fand ihn auf keiner Karte, aber bis zur heutigen Stunde war ihm das auch gleichgültig gewesen. Nur arbeiten, hatte er gedacht, wieder an Krankenbetten stehen, Menschen helfen, einmal noch beweisen, daß man ein Kerl ist, trotz allem, was hinter einem liegt. Wieder ein Arzt sein – für diese Chance hätte Nongkai auf dem Mond liegen können.
    Jetzt allerdings sah das anders aus. Die Fäulnis des Dschungels schlug über ihm zusammen. Er preßte die Lippen und gestand sich ein, Angst zu haben. Beschwere dich bloß nicht, alter Junge, dachte er. Fang um Himmels willen nicht wieder an, dich selbst zu beweisen! Es ist deine letzte Chance, das weißt du.
    Er ging ein paarmal hin und her und starrte hinüber zu den Baracken. Obwohl er nichts zu erwarten hatte, war er enttäuscht. Irgendein Mensch hätte da sein können, der ihm jetzt entgegenkam, die Hand ausstreckte und sagte: »Willkommen, Doktor Haller. Wir haben auf Sie gewartet. Schön, daß Sie da sind …«
    Dr. Haller drehte sich um und ging zu dem Flugzeug zurück. Der schweigsame Birmese klappte sein Bordbuch zu und steckte den Kugelschreiber in die Brusttasche seines weißen Overalls.
    »Was nun?« fragte Dr. Haller.
    Der Pilot zeigte auf die beiden Baracken am Rande des Dschungelwaldes. »Dort …«
    »Danke.« Dr. Haller steckte die Hände in die Rocktaschen. Seine Finger legten sich um zwei Reiseflaschen Gin, und sofort fühlte er sich wohler. Er streichelte die Flaschen und kämpfte gegen den Drang an, eine sofort herauszuziehen und an den Mund zu setzen. ›Der Trompeter‹ nannten seine Freunde die für ihn so typische Haltung; wenn er trank, sah es aus, als blase er ein Solo, seine Augen begannen zu glänzen, und das ständige Zittern in seinem Körper hörte auf.
    Dr. Haller zog die Hände von den Flaschen zurück. Es war eine armselige Geste, denn er wußte, daß dieser Zweikampf bald verloren war. Was soll's auch, dachte er. Das hier ist die Endstation. Wer hier angekommen ist, hat die Freiheit des Mülls. Er darf alles, auch nach Gin stinken. Wen kümmert's noch? Aber ich will nicht aufgeben!
    Er ließ die Hände in den Taschen und blickte wieder hinüber zu der schlaffen Fahne an der Stange. Als man ihm in Rangun sagte, das Hospital ›Jesus am Kreuz‹ brauche einen Arzt, hatte man ihm verschwiegen, wo Nongkai lag. Vielleicht hätte er, wenn man ihm damals die Wahrheit gesagt hätte, trotzdem zugegriffen. Er lag auf der Straße, nicht bildlich gesehen, sondern tatsächlich, hatte von dem Passagierschiff ›Rezi‹ abgeheuert, weil der Schiffsarzt ein Rindvieh war und ihn, den Dr. Haller, der bei ihm als Sanitäter arbeitete, täglich fühlen ließ, daß ein Arzt, dem man die Approbation entzogen hat, weniger ist als ein Stück Dreck. Einen Tag vor dem Einlaufen in den Hafen von Rangun hatte er dann den Schiffsarzt geohrfeigt und vor den Augen aller Passagiere mit Faustschlägen über das Sonnendeck getrieben. Die Konsequenzen zog er bei der Landung selbst, verschwand von Bord und lag zehn Tage in muffigen Hinterzimmern billigster Huren herum, bis er sich aufraffte, ein heißes Bad nahm, seinen einzigen Anzug von einer chinesischen Wäscherei aufbügeln ließ und sich im Gesundheitsministerium bis zu dem Beamten, der zuständig war, durchfragte. Ein deutscher Arzt? Das schien den Mann zu beeindrucken. Er rief den Minister an, und nach zwölf Tagen erhielt Dr. Haller wieder ein vernünftiges Essen, wurde wie ein Mensch behandelt und sagte zu allem »Ja« und »Sehr erfreut« und akzeptierte auch Nongkai, ohne zu fragen.
    Jetzt war das anders. Er fühlte sich in einen Sumpf geworfen und hatte Angst.
    »Wann fliegen wir wieder zurück?« fragte er den Piloten.
    »In zwei Stunden.«
    »Nehmen Sie mich wieder mit?«
    »Nein.« Der Birmese grinste ihn an. »Sie haben keine Rückflugkarte.«
    »Vielleicht können wir tauschen?« Dr. Haller streichelte mit der Hand die Ginflasche in seiner Rocktasche. »Haben Sie noch Ihren Blinddarm? Den nehme ich Ihnen kostenlos heraus, wenn Sie mich zurückfliegen nach Lashio. Ein reelles
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