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Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung

Titel: Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung
Autoren: Dan Simmons
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und drehte sich zu mir um. Ich stand immer noch wie erstarrt da.
    Aenea kam näher und stellte sich auf Zehenspitzen, wie immer, wenn sie mir einen Kuss auf die Wange geben wollte.
    Sie küsste mich zärtlich auf die Lippen. »Es tut mir Leid, Raul«, flüsterte sie. »Es tut mir Leid, dass es so schwer für dich sein musste. Für alle.«
    So schwer für mich. Sie stand da und wusste genau, welche Folterqualen sie im Castel Sant’ Angelo erwarten würden, wo die Nemes-Wesen ihren nackten Körper wie Aasvögel umkreisten, wo die Flammen emporloderten...
    Sie berührte mich an der Wange. »Raul, mein Liebster, ich bin hier. Ich bin es. Für das nächste Jahr, elf Monate, eine Woche und sechs Stunden werde ich bei dir sein. Und ich werde diese Zeitspanne nie wieder erwähnen. Wir haben unendlich viel Zeit. Wir werden immer zusammen sein.
    Und unser Kind wird auch bei dir sein.«
    Unser Kind. Kein aus Notwendigkeit geborener Messias. Keine Heirat mit einem Beobachter. Unser Kind. Unser menschliches, fehlbares, hinfallendes und weinendes Kind.
    »Raul?«, sagte Aenea und berührte meine Wange wieder mit ihren von der Arbeit schwieligen Fingern.
    »Hallo, Spatz«, sagte ich. Und ich nahm sie in die Arme.

35

    Martin Silenus starb am Spätnachmittag des nächsten Tages, mehrere Stunden nach unserer Hochzeit. Pater de Soya traute uns natürlich, so wie er später kurz vor Sonnenuntergang die Beerdigung durchführte. Der Priester sagte, er wäre froh, dass er seine Gewänder und das Messbuch mitgebracht hätte.
    Wir begruben den alten Dichter auf einer der grasbewachsenen Klippen über dem Fluss, wo die Aussicht auf die Prärie und die fernen Wälder am schönsten zu sein schien. Soweit wir es sagen konnten, musste das Haus seiner Mutter irgendwo in der Nähe gestanden haben. A. Bettik, Aenea und ich hatten das Grab tief ausgehoben, da es wilde Tiere in der Gegend gab – in der Nacht zuvor hatten wir Wölfe heulen gehört –, und dann schwere Steine zu der Stätte getragen, um die Erde damit zu bedecken. Auf dem schlichten Grabstein vermerkte Aenea Geburts- und Todesdatum des Dichters – vier Monate weniger als volle tausend Jahre –, ritzte seinen Namen ein und fügte darunter nur hinzu: UNSER DICHTER.
    Das Shrike hatte auf der Klippe im Gras gestanden, wo es mit Aenea eingetroffen war, und sich während unserer Trauung nicht bewegt, wie auch den ganzen Tag nicht, auch nicht an dem wunderschönen Abend, als der alte Dichter starb, oder bei der Trauerfeier während des Sonnenuntergangs, als wir Martin Silenus keine zwanzig Meter von der Stelle entfernt begruben, wo das Ding wie ein Wachtposten mit silbernen Stacheln und Dornen stand, aber als wir uns von dem Grab entfernten, kam das Shrike langsam näher, bis es mit gesenktem Kopf und vier herabhängenden Armen über dem Grab stand und das letzte Leuchten am Himmel sich in dem glatten Panzer und den rubinroten Augen spiegelte. Es bewegte sich nicht noch einmal.
    Pater de Soya und Ket Rosteen drängten uns, noch eine Nacht in einem der Turmzimmer zu verbringen, aber Aenea und ich hatten andere Pläne.
    Wir hatten etwas Campingausrüstung aus dem Schiff des Konsuls geholt, ein aufblasbares Floß, ein Jagdgewehr, jede Menge gefriergetrocknetes Essen, falls wir kein Glück bei der Jagd haben sollten, und hatten es geschafft, das alles in zwei schweren Rucksäcken zu verstauen. Nun standen wir am Rand der Stadtscholle und betrachteten die dämmerige Welt mit Gras und Wald und dunklem Himmel. Das Grabmal des alten Dichters war deutlich vor dem schwindenden Sonnenuntergang zu sehen.
    »Es wird bald dunkel sein«, meinte Pater de Soya erwähnen zu müssen.
    »Wir haben eine Laterne.« Aenea grinste.
    »Es sind wilde Tiere da draußen«, sagte der Priester. »Das Heulen, das wir letzte Nacht gehört haben... weiß Gott, welche Raubtiere gerade jetzt erwachen.«
    »Dies ist die Erde«, sagte ich. »Mit dem Gewehr werde ich mit allem bis zur Größe eines Grizzlybären fertig.«
    »Und wenn es nun Grizzlybären gibt?«, beharrte der Jesuit. »Außerdem werdet ihr euch da draußen verirren. Es gibt keine Straßen oder Städte.
    Keine Brücken. Wie wollt ihr die Flüsse überqueren...«
    »Federico«, sagte Aenea und legte dem Priester sanft, aber bestimmt die Hand auf den Unterarm. »Es ist unsere Hochzeitsnacht.«
    »Oh«, sagte der Priester. Er umarmte sie rasch, schüttelte mir die Hand und trat zurück.
    »Darf ich einen Vorschlag machen, M. Aenea, M. Endymion?«, fragte
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