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Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung

Titel: Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung
Autoren: Dan Simmons
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Zeilen erinnern, die ich über diesen Ort geschrieben habe... wie er zu meiner Zeit ausgesehen hat?«
    »Ich kann es versuchen«, sagte ich. Ich machte die Augen zu. Ich war versucht, die Leere anzuzapfen, den Klang der Lektionen in Grandams Stimme zu suchen, anstatt mich der Anstrengung zu unterziehen, sie aus dem Gedächtnis zu zitieren, machte es aber stattdessen auf die harte Tour und benutzte die Eselsbrücken, die sie mir beigebracht hatte, um mich an bestimmte Absätze des Gedichts zu erinnern. Ich blieb mit geschlossenen Augen stehen und trug die Passagen vor, an die ich mich erinnern konnte:

    »Zarte Dämmerung verblasst von Fuchsie zu Purpur
    über den Krepppapiersilhouetten der Bäume
    hinter der Rasenfläche im Südwesten.
    Der Himmel so fein wie durchscheinendes Porzellan,
    nicht von Wolken oder Kondensstreifen verunziert.
    Der vorsymphonischen Stille des ersten Lichts
    folgt der Paukenschlag des Sonnenaufgangs.
    Orange und Rostrot entflammt zu Gold,
    der lange, kühle Hang zu Grün:
    Laubschatten, Schatten, Äste von Zypressen
    und Trauerweiden, der gedämpfte
    grüne Samt des Sumpfes.

    Mutters Land – unser Land – tausend Morgen
    inmitten von Millionen mehr. Rasenflächen groß wie
    kleine Prärien mit so perfektem Gras, dass es
    den Körper lockte, darauf zu liegen,
    ein Nickerchen auf seiner weichen Makellosigkeit zu machen.
    Edle Schatten spendende Bäume bilden Sonnenuhren  der Erde,
    ihre Schatten kreisen als würdevolle Prozessionen;
    verschmelzen, ziehen sich zur Mittagsstunde zusammen,
    streben schließlich ostwärts, während der Tag stirbt.
    Königliche Eichen.
    Gigantische Ulmen.
    Baumwolle und Zypressen und Rotholz und Bonsai.
    Banyanbäume senken neue Stämme
    wie glatte Säulen eines Tempels,
    dessen Dach der Himmel.
    Weiden säumen sorgsam angelegte Kanäle und willkürliche Bäche,
    deren hängende Zweige uralte Trauerlieder singen zu dem Wind.«

    Ich verstummte. Der nächste Teil war verschwommen. Mir hatten diese pseudolyrischen Stellen der Cantos nie gefallen, stattdessen hatte ich die Schlachtszenen bevorzugt.
    Ich hatte die Schulter des greisen Dichters berührt, während ich rezitierte, und hatte gespürt, wie sie sich entspannte. Ich schlug die Augen auf und erwartete, einen toten Mann in dem Bett liegen zu sehen.
    Martin Silenus betrachtete mich mit seinem Satyrsgrinsen. »Nicht schlecht, nicht schlecht«, krächzte er. »Nicht schlecht für einen alten Schundschreiber.« Er richtete die Videobrille auf den Androiden und den Priester. »Sehen Sie, warum ich diesen Jungen ausgesucht habe, damit er die Cantos für mich vollendet? Seine Schreibe ist keinen Scheißdreck wert, aber er hat ein Gedächtnis wie ein Elefant.«
    Ich wollte gerade fragen: Was ist ein Elefant?, als ich ohne triftigen Grund zu A. Bettik sah. Nach all den Jahren, die ich den sanftmütigen Androiden kannte, sah ich ihn zum ersten Mal einen Augenblick richtig.
    Mein Unterkiefer klappte herunter.
    »Was ist?«, fragte Pater de Soya mit erschrockener Stimme. Vielleicht dachte er, ich hätte einen Herzanfall.
    »Sie«, sagte ich zu A. Bettik. »Sie sind der Beobachter.«
    »Ja«, sagte der Androide.
    »Sie sind einer von ihnen, von den Löwen und Tigern und Bären.«
    Der Priester sah von mir zu A. Bettik zu dem immer noch grinsenden Mann in dem Bett und wieder zu dem Androiden.
    »Ich habe diesen Ausdruck von M. Aenea nie besonders geschätzt«, sagte A. Bettik sehr leise. »Ich habe nie einen leibhaftigen Löwen oder Tiger oder Bären gesehen, weiß aber, dass ihnen eine gewisse Bösartigkeit gemeinsam ist, die... äh... der außerirdischen Rasse fremd ist, der ich angehöre.«
    »Sie haben vor Jahrhunderten die Gestalt eines Androiden angenommen«, sagte ich und betrachtete ihn von einer wachsenden Einsicht erfüllt, die so klar und schmerzhaft war wie ein Schlag auf den Kopf. »Sie waren bei allen entscheidenden Ereignissen dabei... dem Aufstieg der Hegemonie, der Entdeckung der Zeitgräber auf Hyperion, dem Fall der Farcaster...
    Herrgott, Sie waren fast während der gesamten letzten Pilgerfahrt zum Shrike dabei.«
    A. Bettik neigte ein wenig den kahlen Kopf. »Wenn man beobachten soll, M. Endymion, muss man an den Orten sein, wo es etwas zu beobachten gibt.«
    Ich beugte mich zu Martin Silenus und war bereit, ihn zu schütteln und wieder zum Leben zu erwecken, sollte er bereits gestorben sein. »Haben Sie das gewusst, alter Mann?«
    »Nicht, bevor er mit dir gegangen ist, Raul«, sagte der Dichter.
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