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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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Geborgenheit, daß plötzlich alles wieder im Lot war.
    Nikita erwachte von einem gewaltigen, universalen Entsetzen und einer stechenden Einsamkeit in der Brust. Noch bevor er die Augen öffnete, wußte er, daß Jasja nicht mehr bei ihm war. Die Welt lag wieder in Trümmern, im Chaos versunken – er war zurück in seiner Hölle. Die verschlafene Anetschka spülte schuldbewußt Geschirr. »Bleib doch hier, wo willst du denn mitten in der Nacht noch hin?« Nikita schnürte sich in fieberhafter Eile die Schuhe zu. »Wo ist sie? Wo soll ich sie suchen?« Anetschka wußte es nicht. Sie beobachtete das Leben ihrer Freundin wie den Flug eines Kometen: Den Kopf in den Nacken gelegt und mit offenem Mund. Seine Flugbahn zu berechnen ging über ihren Verstand.
    Nikita fand Jasja erst am nächsten Tag. Sie saßen auf einer gelben Bank und schwiegen, einander entfremdet. Jasja betrank sich verbissen und grimmig. Nikita schaute in eine Pfütze. Es war kalt. Plötzlich explodierte Jasja. Passanten drehten sich um und beschleunigten ihre Schritte. Sie schrie:
    »Dein Rußland existiert überhaupt nicht! Das ist alles Blödsinn! Ich will nicht darüber nachdenken! Ich scheiße einen großen Haufen auf alle deine unglücklichen alten Frauen und hungernden Kinder! Ich will niemanden retten! Sollen sie doch krepieren! Ich will glücklich sein! Laß mich in Ruhe! Guck mich nicht so an! Ja, ich bin eine Verräterin! Verräterin! Verräterin! Verurteile mich ruhig für meinen Verrat! Aber guck mich nicht so an! Guck mich nicht so an!«
    Sie stieß ein unmenschliches Geheul aus und schoßdavon. Am nächsten Tag konnte Nikita sie nicht anrufen. Am übernächsten Tag traf er Anetschka an der Haltestelle und erfuhr, daß Jasja wieder in der Schweiz war.
    Nach Jasjas hysterischem Anfall auf der gelben Bank trat die Saison in der Hölle in eine neue Phase. Vor Grauen und Sehnsucht fiel Nikita in eine leblose Gleichgültigkeit. Als ob er das Leben in einem Schwarzweißfernseher sah. Und nichts in ihm reagierte auf die flachen bewegten Bilder.
    Dann lernte er, in einer Welt ohne sie zu leben. Er verließ ihre gemeinsame Heimatstadt und ging nach Moskau. Irgendwann nahm er wieder Gerüche und Geräusche wahr und lächelte auf der Straße die Leute an. Nikita wußte genau, daß dieses fragile Gleichgewicht jederzeit wieder einstürzen konnte wie ein Kartenhaus, durch eine einzige Berührung der kleinen Hand mit den spitzen, in allen Regenbogenfarben lackierten Fingernägeln.
    Doch einstweilen war die Liebe kein Schmerz mehr. Sie wurde zur ungefährlichen Erinnerung. Die man endlos betrachten konnte, indem man immer wieder zum Anfang zurückspulte. Zu der Stelle, an der sie beide siebzehn Jahre alt waren.
    Jasja brach regelmäßig in sein Leben ein. Mit atemlosen Anrufen um vier Uhr morgens. Mit skandalösen Geschichten, aus denen er sie herausholen mußte. Um sie dann lange mit Wodka zu tränken und ihr das nach allen Seiten abstehende rote Haar zu streicheln. Jasja kam häufig zu Besuch und schlief voller Unschuld mit Nikita in einem Bett. Und stieß ihn wie früher auf den Fußboden. Er kannte alle ihre Liebesgeschichten. Jasjas reiche und langweilige Männer haßten seinen Namen wegen ihrer endlosen Leier »einmal haben Nikita und ich …«
    Sie fühlten sich nach wie vor wohl miteinander. Dochwenn Jasja wieder verschwand, stürzte nicht mehr die Welt ein. Nikita lernte, den Schlägen auszuweichen. Selbst ihre Karriere als Pornomodell und stapelweise Fotos von der unanständig nackten Jasja, die sie ihm in der Metro stolz demonstrierte, selbst das tat ihm nicht weh. Er bemühte sich einfach, nicht darüber nachzudenken. Es nicht zu formulieren. Nicht zu benennen. Genau das aber versuchte eines Tages Junker, der die Entwicklung der Ereignisse bis dahin schweigend verfolgt hatte.
    »Wie serviert sie dir das? Als ihre unruhige Seele? Ihr rastloses Wesen? Ach so, Jasja – der wandelnde Skandal! Bist du völlig bescheuert? Sie hat sich schlicht und einfach verkauft! Schön und gewinnbringend. Und in Wirklichkeit ›scheißt sie einen großen Haufen‹ auf dich und auf alles, wofür du lebst!«
    »Gleich schlage ich dich«, sagte Nikita leise.
    Sie sprachen nie wieder über Jasja.

6
    Da läuft die siebzehnjährige Jasja durch den leeren herbstlichen Vergnügungspark. Ihre Haare sind blau gefärbt und stehen zu Berge. In der rechten Hand hält sie eine billige Zigarette. Der Handschuh an ihrer Linken hat zwei lustige Löcher. An Zeige- und
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