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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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wollt einen neuen Chefarzt – erst recht Dudki!«
    So lernte Nikita den Geographielehrer, in Personalunion Kämpfer für ein menschenwürdiges Leben in Dudki, Alexander Anatoljewitsch Agadshanow kennen. Alexander war dreiundzwanzig Jahre alt und wurde sehr verlegen, wenn man ihn mit Vor- und Vatersnamen ansprach.
    In Dudki nannte ihn jeder, ob groß, ob klein, sogar seine eigenen Schüler (hinter seinem Rücken natürlich) den Spinner Saschenka. Den Ruf eines Spinners hatte sich Sascha vorzwei Jahren erworben, als er aus der Pädagogischen Hochschule Jaroslawl in sein heimatliches Dudki zurückkehrte und völlig entsetzt war.
    »Wenn Sie Zeit haben« – Nikita hatte immer Zeit – , »mache ich für Sie eine Führung durch unser Ghetto. Wir leben hier auf einem bakteriologischen Vesuv. Lachen Sie nicht! Der Ort Dudki ist eine Bombe, schlimmer als Al-Qaida!«
    Saschas Hochschulbildung äußerte sich in seiner metaphernreichen Sprache.
    Dudki war um eine Tuberkuloseklinik herum erbaut worden. Die Zeit und der wilde Kapitalismus hatten die Betonmauer, die die gesunden Einwohner gegen die Patienten der Klinik abschirmen sollte, geschleift. Die Kranken strömten in den Ort. Kahlgeschorene Schädel und tätowierte Schultern tauchten in unmittelbarer Nähe der verschlafenen Lokalschönheiten auf. Die Schönen begannen ebenfalls zu husten und mit den wortkargen Infektiösen zu trinken.
    Leben und Tod waren in Dudki eine archaische Symbiose eingegangen. Das ehemalige Leichenschauhaus war als einziges Gebäude mit einem Kühlraum zum Lebensmittelladen umfunktioniert worden. Die Leichen wurden mit einem Kleinbus in den nächsten Ort gebracht. Auf dem Rückweg transportierte der Bus Lebensmittel für den Dorfladen.
    Außerdem gab es in Dudki eine Müllkippe. Direkt am malerischen Ufer der Wolga. Auf der Müllkippe spielte der Nachwuchs der verschlafenen Schönen und der Patienten der Tuberkuloseklinik mit Tröpfen und Spritzen.
    »Laut Vorschrift muß medizinisches Verbrauchsmaterial verbrannt werden!« tobte Sascha Agadshanow, der einzige, der den allgemeinen Fatalismus nicht teilte. »Da ist doch Blut dran! Das ist alles infiziert! Legionen von KochschenStäbchen! Ganz abgesehen von den Kindern, aber wenn es mal heftiger regnet, dann wird das alles in die Wolga geschwemmt! Das wäre eine Katastrophe für ganze Bezirke! Das ist Sabotage! Ein tuberkulöses Tschernobyl!«
    Nikita spürte bereits, wie die allgegenwärtige Infektion durch seine Schuhsohlen drang und sich gierig in seinen Körper fraß. Besonders beeindruckten ihn die Legionen von Kochschen Stäbchen, die, so schien es ihm, durch die krummen Straßen von Dudki marschierten und dem einsamen Tribun, der auf dem Gipfel der Müllkippe in einer Pose antiker Verzweiflung erstarrt war, höhnisch salutierten.
    In Wirklichkeit aber war in Dudki alles ruhig. Ein weltentrücktes Fräulein in einer weinroten Jacke zerrte ein schmutziges Kind an der Müllkippe vorbei. Als die Schöne sah, daß ihr Sproß mit Schokolade beschmiert war, ging sie in die Hocke, schöpfte Wasser aus einer Pfütze und wusch ihrem Kind das Gesicht ab.
    »Sind Sie verrückt! Das ist doch total unhygienisch!« Mit einem Sprung war Agadshanow bei der fürsorglichen Mutter.
    »Selber unhygienisch!« wehrte sie ihn phlegmatisch ab. »Hast du mir etwa das Kind gemacht? Na also! Dann halt dich raus. Du hast uns grade noch gefehlt! Hygienenarr!«
    Hinter den Ruinen der Krankenhausmauer tauchte ein Geschöpf unbestimmten Geschlechts im weißen Kittel auf.
    »Saschka! Du miese Kreatur! Wen hast du da schon wieder auf die Müllkippe geschleppt?! Daß dich die Teufel in die Hölle holen!«
    »Warum reden Sie so, Olga Iwanowna! Wieso hetzen Sie die Teufel auf mich?« erwiderte Agadshanow bitter. »Ich sorge mich doch um euch! Um eure Gesundheit und die Gesundheit eurer Kinder!«
    »Du kannst mich mal! Mit deiner Sorge! Heirate lieber! Und dann erzieh deine Frau! Aber mich laß in Ruhe! Macht einem hier das Leben zur Hölle!« Olga Iwanowna Potebenko, in Dudki der Kürze halber nur Pojebenka * genannt, fluchte und setzte ihren Weg zum Lebensmittelladen fort.
    »Wenn schon die Oberschwester so gleichgültig ist, was soll man da vom übrigen Personal erwarten, geschweige denn von den Kranken!« resümierte Agadshanow traurig.
    Eine halbe Stunde später war Nikita, auf der Krankenhaustreppe sitzend, bereits über Saschas ganze Geschichte im Bilde. Ausgehungert nach einem aufmerksamen Zuhörer, kippte Sascha aus einer
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