Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Enders

Enders

Titel: Enders
Autoren: Lissa Price
Vom Netzwerk:
vor ein paar Wochen alle in die Villa gezogen waren. Der für Michael typische Geruch von Ölfarben und frisch geschnittenem Holz strömte mir entgegen. Bei ihm hatte es immer gut gerochen, selbst in unserer Zeit als ungewaschene Hausbesetzer.
    Aber es waren die Zeichnungen an den Wänden, die dem Cottage seine ganz persönliche Note gaben. Das erste Blatt zeigte einige Starters, aus deren Augen Hunger und Verzweiflung leuchteten, eingehüllt in Schichten von zerlumpten Klamotten, mit Handleuchten an Lederarmbändern und Wasserflaschen, die an Riemen von den mageren Hüften der Jugendlichen baumelten.
    Auf einem anderen Blatt kämpften drei Starters um einen Apfel. Einer lag verletzt am Boden. Kaum zu glauben, dass dies bis vor wenigen Monaten auch mein Leben gewesen war. Noch erschütternder war die nächste Skizze.
    Sara, meine Freundin. Das Mädchen, das ich so gern gerettet hätte. Ich hatte Michael von ihr erzählt. Das Bild zeigte sie im Institut 37, jener schrecklichen Einrichtung, in der mich die Marshals eingesperrt hatten, zusammen mit anderen Minderjährigen, die keine Familienangehörigen mehr besaßen. Sara hatte den Wachtposten von mir abgelenkt und war im Stacheldraht der Waisenhausmauer hängen geblieben, tödlich getroffen von einem Taser.
    Das Bild verschwamm vor meinen Augen. Ich hatte sie im Stich gelassen. Ich war schuld an ihrem Tod.
    Jemand betrat das Cottage. Ich drehte mich um und sah meinen Bruder Tyler hereinkommen.
    »Monkey!«, rief er.
    Ich lachte und wischte mir verstohlen über die Augen, als er auf mich zustürmte und die Arme um meine Knie schlang. Michael, der hinter ihm aufgetaucht war, blieb einen Moment lang lächelnd auf der Schwelle stehen. Dann schloss er die Tür und stellte seine Reisetasche ab.
    »Du bist zurück.« Ich betrachtete Michael.
    Er schüttelte sich das wirre blonde Haar aus der Stirn. Mein besorgter Tonfall schien ihn zu überraschen.
    Tyler löste sich von mir. »Michael hat mir etwas mitgebracht.«
    Er schwenkte einen kleinen Spielzeuglaster und ließ ihn über die Couchlehne rollen.
    »Wo warst du?«, fragte ich. Ich hatte ihn zuletzt unter den Zuschauern gesehen, die den Abbruch des Prime-Gebäudes mitverfolgten.
    Er zuckte mit den Schultern. »Ich brauchte einfach ein wenig Abstand.«
    Er sah mich stumm an. Mehr wollte er wohl in Tylers Gegenwart nicht sagen. Ich wusste, dass er mich Hand in Hand mit Blake gesehen hatte, dem Enkel von Senator Harrison. Zwei Marionetten des Old Man.
    Ich senkte die Stimme. »Hör mal, diese Geschichte hatte nichts zu bedeuten. Außerdem dachte ich, dass du mit Florina …«
    »Das ist vorbei.«
    Wir wechselten einen langen Blick. Tyler spielte immer noch mit seinem Laster. Er ahmte Motorengeräusche nach, aber ich wusste, dass er uns zuhörte. Ich suchte nach den richtigen Worten, um meine Gefühle auszudrücken, aber es gelang mir nicht einmal, sie zu sortieren. Der Old Man, Blake, Michael – es war alles so verworren.
    Mein Handy piepte. Eine Erinnerung. Drei ungelesene Zings.
    »Ein hartnäckiger Verehrer?«, erkundigte sich Michael.
    Ich warf einen Blick auf die Zings. Sie waren allesamt von Blake. Er hatte seit unserer Begegnung beim Abriss von Prime immer wieder versucht, mich zu erreichen.
    »Das ist er, stimmt’s?«, fragte Michael.
    Ich schob das Handy zurück in die Tasche, hielt den Kopf schräg und warf ihm einen Blick zu, der besagte: Lass mich in Ruhe! Tyler spürte die Spannung.
    »Wir fahren ins Einkaufszentrum«, verkündete Tyler. »Schuhe kaufen.«
    »Ohne mich vorher zu fragen?«
    »Er hat so gebettelt«, meinte Michael.
    Ich lachte. »Er wächst so schnell, dass ihr am besten noch ein zweites, etwas größeres Paar für nächste Woche mitnehmt.«
    Wir waren alle erleichtert, dass es Tyler wieder gut ging. Das vergangene Jahr als Hausbesetzer in verlassenen, eiskalten Bürogebäuden hatte seiner Gesundheit stark zugesetzt. Doch jetzt war er viel erholter. Und an Geld fehlte es uns auch nicht mehr.
    »Komm doch mit«, sagte Tyler.
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin auf dem Sprung.«
    »Wohin?«, wollte Michael wissen.
    »In unsere frühere Nachbarschaft. Ich bringe den Starters etwas zu essen.«
    »Brauchst du Hilfe?«, fragte Michael.
    »Warum? Glaubst du, ich schaffe das nicht allein?«
    Er sah mich gekränkt und verständnislos zugleich an. Ich wusste selbst nicht, warum ich ihn so angefaucht hatte. Tylers Blicke wanderten zwischen uns hin und her.
    »Ich denke, dass ich klarkomme«, sagte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher