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Ende eines Sommers

Ende eines Sommers

Titel: Ende eines Sommers
Autoren: Rosemarie Pilcher
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bei mir behalten werde.“
    Ich hatte genug gehört. Ich sprang auf und rannte die dunkle Treppe hinauf. In meinem Zimmer warf ich mich mit dem Gesicht nach unten auf mein Bett und brach in bittere Tränen aus, weil ich Elvie verlassen mußte, weil ich Sinclair nie wiedersehen würde und weil die beiden Menschen, die ich auf der Welt am meisten liebte, sich meinetwegen gestritten hatten.
    Natürlich schrieb ich, und meine Großmutter antwortete, und Elvie mit all seinen Geräuschen und Gerüchen war in ihren Briefen gegenwärtig. Und dann, nachdem ein oder zwei Jahre vergangen waren, schrieb sie:
     
    Warum kommst du nicht zurück nach Schottland? Nur für einen kurzen Ferienaufenthalt, einen Monat oder so. Wir vermissen dich alle schrecklich, und es gibt hier eine Menge für dich zu sehen. Ich habe in dem ummauerten Garten eine neue Rosenrabatte angelegt, und Sinclair wird den August bei uns verbringen … er hat eine kleine Wohnung in Earls Court und lud mich zum Mittagessen ein, als ich das letzte Mal in der Stadt war. Wenn es irgendwelche Schwierigkeiten mit den Flugkosten geben sollte, so weißt du, daß du es nur zu sagen brauchst. Dann werde ich Mr. Bembridge zum Reisebüro schicken, damit er dir ein Flugticket besorgt. Sprich mit deinem Vater darüber.
     
    Der Gedanke an Elvie im August, mit Sinclair, war fast unwiderstehlich, aber ich konnte nicht mit meinem Vater darüber sprechen, weil ich die zornige Diskussion in der Bibliothek mit angehört hatte und nicht glaubte, daß er mich gehen lassen würde.
    Außerdem war offenbar nie Zeit, und nie ergab sich die Gelegenheit, um die Reise nach Hause anzutreten. Es war, als wären wir Nomaden geworden – wir kamen an einem Ort an, ließen uns nieder, und dann war es Zeit, woanders hinzugehen. Manchmal waren wir reich, meist aber pleite. Ohne den einschränkenden Einfluß meiner Mutter gab mein Vater das Geld mit vollen Händen aus. Wir lebten in Villen, in Motels, in Wohnungen in der Fifth Avenue, in lausigen Mietskasernen. Im Lauf der Jahre kam es mir vor, als hätten wir unser gesamtes Leben damit zugebracht, durch Amerika zu reisen, und als würden wir uns nie wieder irgendwo niederlassen. Die Erinnerung an Elvie verblaßte und wurde unwirklich, als hätten sich die Wasser von Elvie Loch erhoben und das ganze Anwesen verschlungen. Ich mußte mich gewaltsam daran erinnern, daß es immer noch da war, bewohnt von lebendigen Menschen, die zu mir gehörten und die ich liebte, daß es nicht untergegangen und für immer verloren war, durch die tiefen Wasser irgendeiner schrecklichen Naturkatastrophe nur noch verschwommen und undeutlich zu sehen.
    Zu meinen Füßen winselte Rusty. Aufgeschreckt sah ich zu ihm hinunter, einen Augenblick lang wußte ich gar nicht, wer er war oder was er hier tat – so weit weg war ich gewesen. Und dann gab es, wie bei einem Filmprojektor, wenn der Film in der Mitte steckenbleibt, einen Klick in der Maschinerie, und das tägliche Leben ging weiter. Ich stellte fest, daß mein Haar fast trocken war, daß Rusty Hunger hatte und sein Abendessen wollte, und ich ebenfalls. So legte ich meinen Kamm hin, verbannte Elvie aus meinen Gedanken, stand auf, holte Holz für das Feuer und ging zum Kühlschrank auf der Suche nach etwas Eßbarem.
    Es war fast neun Uhr, als ich das Auto auf dem Weg, der von La Carmella herführte, den Berg herunterkommen hörte. Wie alle Autos konnte es sich hier nur im niedrigsten Gang bewegen, deshalb war es nicht zu überhören.
    Ich las ein Buch und wollte gerade eine Seite umblättern, erstarrte aber in dieser Haltung und spitzte die Ohren. Rusty spürte das und setzte sich sofort hin, sehr bedächtig, als wolle er niemanden aufschrecken. Gemeinsam lauschten wir. Ein Holzscheit glitt in die Glut, und in der Ferne donnerte die Brandung. Das Auto fuhr den Hügel herunter.
    Ich dachte – Myrtle und Bill. Sie waren im Kino, in La Carmella. Aber das Auto hielt nicht am Drugstore an. Es fuhr weiter, immer noch mühsam im ersten Gang, an den Zedern vorbei, wo die Picknick-Ausflügler ihre Autos parkten, weiter auf der einsamen Straße, die nur noch zu mir führen konnte.
    Mein Vater? Aber er sollte erst morgen abend wiederkommen. Der junge Mann, den ich heute getroffen hatte, der auf ein Bier zurückkehrte? Ein Landstreicher? Ein entflohener Sträfling? Ein gefährlicher Wahnsinniger?
    Ich sprang auf, ließ mein Buch auf den Kaminläufer fallen und rannte los, um die Riegel an den Türen zu überprüfen. Sie waren beide
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