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Empfindliche Wahrheit (German Edition)

Empfindliche Wahrheit (German Edition)

Titel: Empfindliche Wahrheit (German Edition)
Autoren: John le Carré
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halbgebildet und eloquent, ein ewiger Halbwüchsiger im Maßanzug, der in seiner Gier nach Geld, Macht und Anerkennung über Leichen ging. So weit, so gut. Toby war kleinen Crispins schon in allen Lebenslagen begegnet, in allen Ländern, in die sein Dienst ihn geführt hatte – nur eben keinem, dessen Handelsware der Krieg war.
    In einem halbherzigen Versuch, Entschuldigungen für ihn zu finden, fragte sich Toby sogar, ob der Mann im tiefsten Innern schlicht und ergreifend dumm war. Anders ließ sich ein so grandioser Pfusch wie die Operation Wildlife doch kaum erklären. Und im Anschluss arbeitete er sich an dem berühmten Schiller-Zitat ab, demzufolge gegen Dummheit selbst die Götter vergebens kämpften. Völlig verkehrt aus Tobys Sicht, und keinerlei Ausrede für irgendwen, ob Gott oder Mensch. Wogegen die Götter und alle vernunftbegabten Menschen zu kämpfen hatten, war nicht Dummheit, o nein. Es war diese dreiste, brutale, gottverdammte Gleichgültigkeit gegenüber allen Interessen außer den eigenen.
    Und das, soweit es jemals zu ermitteln sein wird, waren die Themen, um die seine Gedanken kreisten, als er sein Haus erreichte, die Stufen zu seiner Wohnung hinaufstieg, die Tür aufsperrte und die Hand nach dem Lichtschalter ausstreckte – nur um einen nassen Lappen in den Mund gestopft zu bekommen, ehe man ihm die Hände auf den Rücken bog und mit Plastikband fesselte und ihm (möglicherweise, sicher war er sich nicht, weil er ihn weder sah noch hinterher irgendwo fand, sondern sich, wenn überhaupt, nur an seinen klebrigen Geruch erinnerte) einen groben Sack über den Kopf stülpte, als Auftakt zu einer Tracht Prügel, wie er sie sich in seinen übelsten Träumen nicht hätte ausmalen können.
    Oder vielleicht – dies ein nachträglicher Gedanke – diente der Sack dazu, eine Art Tabuzone für seine Angreifer zu markieren, denn der einzige Teil seines Körpers, der sich später als unversehrt herausstellen sollte, war das Gesicht. Und wenn es irgendeinen Hinweis darauf gab, wem er die Prügel verdankte, dann die unbekannte Männerstimme ohne jeden zuordenbaren Akzent, die in befehlsgewohntem Ton sagte: »Aber so, dass es keine Narben gibt.«
    Die ersten Schläge waren unstreitig die schmerzhaftesten, weil die überraschendsten. Als seine Angreifer ihn packten, dachte er erst, das Rückgrat müsste ihm brechen, dann das Genick. Und es gab eine Phase, in der sie drauf und dran waren, ihn zu erdrosseln, um es sich im letzten Moment doch anders zu überlegen.
    Was aber noch unendlicher schien, war der Hagel von Schlägen und Tritten in seinen Magen, die Nieren, die Weichteile und immer wieder die Weichteile, denn der ging auch noch weiter, als er schon nicht mehr bei Bewusstsein war. Das Letzte, was er hörte, war dieselbe neutrale Stimme wie zuvor, die ihm im selben Befehlston ins Ohr sagte:
    »Glaub nicht, dass das schon alles war, Freundchen. Das war nur ein Vorgeschmack. Merk dir das, ja?«
    ***
    Sie hätten ihn einfach auf dem Dielenteppich abladen oder auf den Küchenboden werfen können, aber wer immer sie waren, sie hatten offenbar ihre Berufsehre. Sie legten ihn mit der respektvollen Sorgfalt von Leichenbestattern auf dem Bett zurecht, zogen ihm die Turnschuhe von den Füßen, schälten ihn aus seinem Anorak und ließen es sich auch nicht nehmen, ihm eine Karaffe mit Wasser und ein Glas auf den Nachttisch zu stellen.
    Seine Armbanduhr zeigte fünf Uhr an, aber das tat sie schon seit geraumer Zeit, so dass er annahm, dass sie bei dem Handgemenge zu Schaden gekommen war. Das Datum steckte zwischen zwei Tagen fest, und Donnerstag, so viel wusste er, war der Tag, an dem er mit Shorty verabredet gewesen war, und deshalb auch der Tag, an dem man ihn gekidnappt und nach St. John’s Wood verschleppt hatte, und vielleicht – aber wer konnte da sicher sein? – war heute Freitag, in welchem Fall Sally, seine Assistentin, sich langsam fragen würde, wie lange sein Weisheitszahn noch verrückt spielen wollte. Die Dunkelheit hinter dem vorhanglosen Fenster ließ auf Nacht schließen, aber ob es nur für ihn Nacht war oder für alle Welt, musste fürs Erste dahingestellt bleiben. Sein Bett war mit Erbrochenem besudelt, und auch der Boden war voll damit, teils frisch, teils schon eingetrocknet. Er erinnerte sich außerdem dunkel daran, dass er halb kriechend, halb seitlich rollend ins Bad gelangt war, um ins Klo zu kotzen, nur um wie so viele wackere Gipfelstürmer vor ihm entdecken zu müssen, dass der Abstieg
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