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Empfindliche Wahrheit (German Edition)

Empfindliche Wahrheit (German Edition)

Titel: Empfindliche Wahrheit (German Edition)
Autoren: John le Carré
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Fehlt noch was?«
    »Ja.«
    Vielleicht um Tobys Blick auszuweichen, genehmigt Crispin sich eine 360 -Grad-Drehung auf den Kufen seines topmodernen Schaukelstuhls. Aber als die Runde beendet ist, sieht Toby ihn immer noch an.
    »Sie haben mir noch nicht verraten, warum Sie Angst vor mir haben«, sagt er weniger herausfordernd als grüblerisch. »Elliot setzt die Sache in Gibraltar in den Sand, aber Sie feuern ihn nicht, Sie behalten ihn schön in Sichtweite. Shorty überlegt, ob er nicht an die Öffentlichkeit gehen soll, also wird er eingestellt, obwohl er kokst. Jeb drängt mit aller Macht an die Öffentlichkeit und lässt sich nicht an Bord holen, deshalb hilft bei ihm nur Selbstmord. Aber was habe ich, das Ihnen gefährlich werden könnte? Doch eigentlich nichts, oder? Warum bekomme ich also ein Angebot, zu dem ich nicht nein sagen kann? Es ergibt keinen Sinn für mich. Aber vielleicht für Sie?«
    Und als feststeht, dass Crispin nicht vorhat, sich zu äußern, redet er weiter:
    »Ich könnte mir höchstens vorstellen, dass Sie mit Jebs Tod einen Schritt zu weit gegangen sind, und wer immer bisher seine schützende Hand über Sie gehalten hat, bekommt nun langsam, aber sicher Zweifel. Sie wollen mich aus dem Weg haben, denn solange ich an dem Fall dranbleibe, können Sie sich nicht wohl und entspannt fühlen. Und das reicht mir eigentlich schon als Grund, weiterzumachen. Verwenden Sie das Tonband, wie immer Sie möchten. Aber meine Vermutung ist, dass Sie es gar nicht verwenden, weil Sie nämlich Schiss haben.«
    ***
    Alles geschieht plötzlich wie in Zeitlupe. Für Crispin auch? Oder nur für Toby? Crispin erhebt sich und versichert Toby betrübt, dass er die Sache ganz, ganz falsch versteht. Aber er ist ihm nicht böse deswegen, und wenn Toby erst ein paar Jahre älter ist, wird er vielleicht begreifen, wie es in der wirklichen Welt zugeht. Den Händedruck schenken sie sich. Ob Toby nach Hause gefahren werden möchte? Nein danke, Toby möchte lieber zu Fuß gehen. Und er geht. Zurück durch den O’Keeffe-Korridor mit dem Terrazzoboden, vorbei an den halb offenen Türen, hinter denen junge Frauen und Männer wie er vor ihren Computern oder über ihre Telefone gebeugt sitzen. Von den höflichen Männern bei der Tür bekommt er Armbanduhr, Kugelschreiber und Spiralblock ausgehändigt, schlendert dann über das Kiesrondell und am Torhaus vorbei durch das offene Tor. Von Elliot, Shorty, dem Audi, der ihn hierhergebracht hat, oder dem Geleitwagen keine Spur. Er geht weiter. Irgendwie ist es später, als er dachte. Die Nachmittagssonne scheint sanft und warm, und die Magnolien, wie immer um diese Jahreszeit in St. John’s Wood, sind ein Traum.
    ***
    Wie Toby die nächsten Stunden verbrachte oder wie viele es überhaupt waren, ließ sich hinterher nicht ganz rekonstruieren. Dass er Rückschau hielt, versteht sich von selbst. Was sonst tut ein Mann, wenn er zu Fuß von St. John’s Wood bis nach Islington geht, im Kopf die großen Themen Liebe, Leben und Tod, vor Augen das Ende seiner Karriere und vielleicht sogar Gefängnis?
    Emily musste seinen Berechnungen nach noch mit ihren Hausbesuchen beschäftigt sein, es war darum zu früh, sie anzurufen. Außerdem wusste er nicht, was er ihr hätte sagen sollen, er hatte den silbernen Burner zu Hause gelassen, und Telefonzellen traute er grundsätzlich nicht, selbst wenn sie funktionierten.
    Also rief er Emily nicht an, und Emily bestätigte später, dass er nicht angerufen hatte.
    Fest steht, dass er in zwei, drei Pubs einkehrte, aber nur, um unter normalen Menschen zu sein, denn bei Krisen und in der Verzweiflung trank er nicht, und er hatte das deutliche Gefühl, sich in den Klauen von beidem zu befinden. Ein Kassenzettel in der Tasche seines Anoraks belegte, dass er eine Pizza mit extra viel Käse gekauft hatte. Aber wann und wo das gewesen sein sollte, ging aus dem Zettel nicht hervor, und er hatte keinerlei Erinnerung daran, sie gegessen zu haben.
    Und natürlich vergaß er in seinem Abscheu und Zorn und seinem intuitiven Drang, diese Gefühle einzudämmen, auch Hannah Arendts Konzept von der Banalität des Bösen nicht und debattierte mit sich selbst ausgiebig darüber, ob Crispin in dieses Konzept passte oder nicht. Nahm Crispin sich lediglich als braven Handlanger der Gesellschaft wahr, der den Zwängen des Marktes gehorchte? Vielleicht sah er sich selbst so, aber nicht Toby. Für Toby war Jay Crispin ein Mensch wie so viele: wurzellos, amoralisch, geschickt,
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