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Empfindliche Wahrheit (German Edition)

Empfindliche Wahrheit (German Edition)

Titel: Empfindliche Wahrheit (German Edition)
Autoren: John le Carré
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schlimmer war als der Aufstieg.
    Die Stimmen und der Verkehrslärm draußen vor dem Fenster klangen gedämpft, aber auch da blieb zu eruieren, ob das eine allgemeine Wahrheit war oder eine, die für ihn allein galt. Unzweifelhaft waren die Geräusche von der Straße leiser als das übliche Abendgelärme – vorausgesetzt, es war überhaupt Abend. Eine plausiblere Erklärung schien ihm, dass das Grau das der Morgendämmerung war und er demnach zwölf bis vierzehn Stunden so gelegen hatte, dösend und kotzend oder einfach damit beschäftigt, mit dem Schmerz zu Rande zu kommen, was eine Betätigung für sich war, ohne jeden zeitlichen Bezug.
    Weshalb er auch erst jetzt, ganz allmählich, zu begreifen begann, was für ein Jaulen ihm da ins Ohr drang und woher es kam. Es war der silberne Burner, und er jaulte unter seinem Bett hervor. Er hatte das Teil zwischen Rost und Matratze versteckt, ehe er zu seinem Treffen mit Shorty loszog, und warum zum Henker es angeschaltet geblieben war, schien gleich das nächste Rätsel – dem Ding selbst offenbar ebenfalls, denn sein Gejaule verlor schon an Inbrunst, und bald würde es keinen Mucks mehr tun.
    Und so wusste er keinen anderen Weg, als sich mit dem letzten Rest seiner Kraft vom Bett zu wälzen und auf den Boden hinunterzudonnern, wo er, wenn auch nur in seiner Wahrnehmung, eine ganze Weile im Sterben lag, bevor er mit der linken Hand nach dem Rost langte, einen Finger um eine Latte hakte und sich daran hochzog, während er mit der Rechten – die taub und wahrscheinlich gebrochen war – nach dem Telefon grabschte, es zu fassen bekam und im selben Moment an seine Brust raffte, in dem die Linke den Halt verlor und er zurück auf den Boden krachte.
    Danach brauchte er nur noch die grüne Taste zu drücken und sich mit einem möglichst munteren »Hi« zu melden. Und als nichts zurückkam und seine Geduld oder vielleicht auch seine Energie am Ende war, sagte er:
    »Mir geht’s gut, Emily. Ein bisschen geschlaucht, aber sonst alles bestens. Nur komm bitte nicht her. Wirklich. Ich bin reines Gift« – womit er im weitesten Sinne meinte, dass er sich schämte. Shorty war ein Reinfall gewesen, man hatte ihn als Einziges halb totgeprügelt, er hatte es genauso verbockt wie ihr Vater, das Haus wurde wahrscheinlich sowieso überwacht, und er war der letzte Mensch auf der Welt, den sie besuchen sollte, ob als Ärztin oder in irgendeiner anderen Eigenschaft.
    Beim Auflegen wurde ihm allerdings klar, dass sie ja gar nicht kommen konnte , weil sie nicht wusste, wo er wohnte, er hatte immer nur von Islington gesprochen, und Islington erstreckte sich über etliche dichtbebaute Quadratmeilen, er war also in Sicherheit. Und sie war es auch, ob es ihr passte oder nicht. Er konnte das verdammte Telefon abschalten und dösen, was er auch tat, nur um erneut aufgeschreckt zu werden, nicht von dem Burner diesmal, sondern von einem brüllend lauten Hämmern an der Tür – das konnten keine Fäuste sein, dachte er, das war irgendein schweres Gerät –, und als es endlich abbrach, kam die erhobene Stimme von Emily, die sehr wie ihre Mutter klang.
    »Ich stehe vor deiner Tür, Toby«, rief sie ganz unnötigerweise schon zum zweiten oder dritten Mal. »Und wenn du nicht bald aufmachst, bitte ich deinen Nachbarn aus dem Erdgeschoss, dass er mir hilft, sie aufzubrechen. Er weiß, dass ich Ärztin bin, und er hat lautes Poltern aus deiner Wohnung gehört. Hörst du mich, Toby? Ich drücke auf die Klingel, aber sie scheint nicht zu läuten.«
    Damit hatte sie recht. Alles, was die Klingel von sich gab, war ein abgehacktes Hicksen.
    »Toby, kannst du bitte an die Tür kommen? Antworte wenigstens, Toby. Ich würde wirklich lieber nicht einbrechen müssen.« Pause. »Oder hast du Damenbesuch?«
    Diese letzte Frage war zu viel, also krächzte er »Ich komme« und vergewisserte sich, dass sein Reißverschluss auch zu war, bevor er sich wieder vom Bett herunterwälzte und auf seiner linken Seite, die die vergleichsweise heile war, den Gang entlangrobbte.
    An der Tür angekommen, schaffte er es, sich gerade lange genug auf die Knie aufzurichten, um mit der Linken den Schlüssel aus seiner Tasche heraus- und ins Schloss hineinzufummeln und ihn zweimal umzudrehen.
    ***
    Strenges Schweigen herrschte in der Küche. In der Waschmaschine drehten sich diskret die Bettbezüge. Toby im Bademantel saß jetzt fast aufrecht, und Emily stand mit dem Rücken zu ihm und machte eine Hühnersuppe warm, die sie für ihn geholt
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