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Emil

Emil

Titel: Emil
Autoren: Dror Burstein
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nach unten weitergehe, und erhielt keine Antwort.
    Unten angelangt, begann es Joel leid zu tun, dass er sich auf die ganze Sache eingelassen hatte. Es war klar, dass hier ein kleines antikes Stadtviertel, vielleicht sogar eine ganze Stadt, entdeckt worden war, über der der Mailänder Dom erbaut worden war. Auch der Guide war nun unten angekommen. Nachdem sie einige Schritte ins Innere gegangen waren, schlug er sich auf die Stirn und rief etwas in Suaheli, sagte dann auf Englisch: Was für ein Idiot ich bin, ich habe den Schlüssel zu den Katakomben oben bei Giovanni vergessen. Joel hatte keine Kraft zu fragen, wer Giovanni sei, jedenfalls war er ganz sicher nicht bereit, noch einmal hinauf- und wieder hinunterzusteigen. Es roch nach Betrug. Zwar waren seit Beginn dieser besonderen Führung erst einige Minuten vergangen, doch wollte er unter keinen Umständen riskieren, den Flug zu versäumen. Er richtete seine Lampe auf den Führer und sagte: Macht nichts, verzichten wir auf die Katakomben, begnügen wir uns mit dem Fresko. Doch mit einem Handgriff schaltete der Führer die Lampe auf seinem Schutzhelm an und sagte: Das ist unmöglich, unmöglich, das Fresko befindet sich mitten im Gräbertrakt. Sie werden doch das Fresko nicht durch ein enges Gitter sehen wollen, Signore!
    Sie verharrten einen Augenblick schweigend. Der Guide nahm seinen Helm ab und wischte ihn ab. Der Lichtstrahl irrte über die Mauern. Das sei sein Vorschlag: Joel solle noch einige Schritte weitergehen, bei langsamem Gehen kaum zwei Minuten. Am Ende des kurzen Weges säßen die beiden Brüder, die ihm eine kurze Erläuterung geben würden, die er ohnehin erhalten hätte, und noch bevor sie damit zu Ende wären, würde er selbst bereits mit dem Schlüssel wieder zurück sein. Joel blickte den Guide beunruhigt an. Und wenn jener Giovanni nicht da wäre? Der Guide lachte auf. Giovanni geht nirgends hin, er ist Vollinvalide, sitzt bettelnd am Eingang zum Dom, spielt auf seiner Kithara, einen Fez auf dem Kopf und den Schlüssel um den Hals. Vierzig Saiten, forty strings, betonte der Guide mit Stolz und ließ seine Finger über den leuchtenden Schutzhelm tanzen, als ob er selbst jede einzelne Saite anschlage. Auf jeden Fall, sagte der Führer, indem er mit beiden Händen sanft Joels Hand hielt, Auf jeden Fall sind doch die Kinder da, ich muss auf jeden Fall zurückkommen, um sie zu holen. Und wieder funkelten seine Augen. Das ist Ihre Garantie, lachte er, Like Simon in the Bible, yes? Und zu Joels leichtem Entsetzen zog der Guide aus seiner Tasche Emils Zeichnung, glättete sie und hielt sie Joel vor die Augen, als wäre dies die natürlichste Sache der Welt, als habe ihm Joel die Zeichnung geschenkt. Vielleicht hatte er sie ihm wirklich in seiner Zerstreutheit gegeben? Und während Joel noch nach Worten suchte, rief der Führer irgendetwas in den Gang hinein und kletterte hurtig die Leiter hinauf.
    Joel wandte sich um. Der unterirdische Saal war erleuchtet, schon waren erste Vorbereitungen für künftige Touristenbesuche zu erkennen. Die silbernen Schläuche einer Klimaanlage waren installiert, an den Wänden hingen einige Tafeln bereit für noch anzubringende Erläuterungen. Eine große rote Digitaluhr mit blinkenden Nullen war bereits an prominenter Stelle befestigt. Joel ergriff das an der Wand befestigte Geländer und setzte sich in Bewegung. Plötzlich spürte er Freude und Erleichterung. Vielleicht, weil ihn dieses Marschieren an die Ausflüge erinnerte, die er früher einmal, in den späten Vierzigerjahren, mit den Kameraden von der Jugendbewegung unternommen hatte, fünfzehn Jahre waren sie alt, Kinder noch, gingen auf Wanderung, schliefen in den Feldern, stiegen in Höhlen hinab, zu denen der Zufall sie geführt hatte. Sie dachten sich Reiseabenteuer auf grenzfreiem britischen Gebiet aus, träumten von einer Zugfahrt in den Libanon, nach Damaskus und nach Bagdad, scherzten mit den englischen und australischen Soldaten, nahmen freudig eine Schillingmünze entgegen, auf dem Feld knackten sie Wassermelonen, und als er nach drei oder vier Tagen heimkam, saßen die Eltern, als hätten sie seine Abwesenheit gar nicht bemerkt, am Mittagstisch, der Vater in die Zeitung versunken, während die Mutter sich die Schläfen massierte.
    Joel ging weiter. Mehrere elektronische Schautafeln waren schon betriebsbereit installiert. Von Zeit zu Zeit tauchte sein Spiegelbild auf den dunklen Plasmabildschirmen auf. Vor einem hielt er kurz an, um sein Gesicht
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