Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ella und das große Rennen

Ella und das große Rennen

Titel: Ella und das große Rennen
Autoren: Timo Parvela
Vom Netzwerk:
wollte er nicht mehr weiterstreichen. Seine Kinder sollten nicht in einem Haus aufwachsen, aus dessen Fenstern man auf einen gigantischen Parkplatz schaute. So erzählte er es uns im Bus. Er und seine Familie wollten irgendwo hinziehen, wo man von Formel-1-Rennautos nichts sah und nichts hörte.
    »Aber wenn uns das alte Haus niemand abkauft, können wir uns auch kein neues leisten«, vermutete die Frau des Lehrers, die mit ihrer Klasse im selben Bus mitfuhr.
    »Dann baue ich es mit meinen eigenen Händen, wie unsere Ahnen, als sie in die nordischen Sümpfe zogen«, sagte der Lehrer.
    »Weißt du noch, wie du letztes Jahr den Briefkasten repariert hast?«, fragte ihn seine Frau.
    »Jeder macht mal einen Fehler. Und den Enten, die jetzt drin nisten, gefällt er ja.«
    Als wir in der Pause auf dem Riesenschulhof standen, wurde uns endgültig bewusst, in welch großer Not wir waren. Wohin man schaute, sah man fremde Kinder. Niemals würden wir es schaffen, die alle kennenzulernen. Wie sollte das bei Tausenden von Schulkameraden auch gehen? Dazu würde die ganze Schulzeit nicht reichen. Wie eine Festung stand das Schulgebäude, das einen düsteren Schatten auf uns und unsere Zukunft warf. Wir waren winzige Körnchen zwischen den Mühlsteinen einer öden Unterrichtsfabrik.
    Pekka holte die Streichholzschachtel heraus und öffnete sie einen Spaltbreit. Martti lag regungslos in der Ecke. Unmöglich zu sagen, ob er überhaupt noch am Leben war.
    »Wenn wir nicht bald in die alte Schule zurückkönnen, wird er sterben«, schluchzte Pekka.
    Wir anderen schauten verzweifelt auf Timo, aber der wich unseren Blicken aus. Die kalte Novembersonne, die eben noch den Schulhof beschienen hatte, verzog sich hinter eine Wolke, und mit dem Licht verschwand das letzte Fünkchen Hoffnung.
    Da erinnerte ich mich an das Horn. Ich trug es bei mir, seit Anna es uns gegeben hatte. Ich sollte es blasen, wenn wir in Not gerieten. Und jetzt war es so weit.
    »Soll ich?«, fragte ich und hob das Horn, damit es alle sehen konnten.
    »Bleibt uns wohl nichts anderes übrig«, sagte Timo düster.
    »Vielleicht kommen Adler uns retten wie in
Herr der Ringe
«, hoffte Tiina.
    »Oder ein schwarzes Pferd kommt galoppiert wie in
Zorro
«, träumte Hanna.
    »Oder das Skelett kommt vom Dachboden der Schule«, gruselte sich Mika.
    »Wenn es das macht, holt es sich ein paar blaue Flecken«, drohte der Rambo.
    Also blies ich ins Horn. Es klang wie eine jammervolle Klage. Als hätte man die Rufe eines Wals mit dem Weinen eines kleinen Kindes gekreuzt. Auf dem Schulhof erstarb jede Bewegung. Alle standen wie angewurzelt und schauten zu mir her. Die aus den unteren Klassen brachen in Tränen aus, und die aus den oberen hielten sich die Ohren zu. Ich blies so lange, wie ich Luft in den Lungen hatte. Dann wurde es still.
    »Nichts«, sagte Hanna, nachdem wir eine Weile gewartet hatten.
    Die Schulhofmeute hatte sich von ihrem Schock erholt und wuselte weiter, als wäre nichts gewesen.
    »Mit dem Batphone hätte es geklappt«, vermutete Mika. »Batman wäre bestimmt schon hier.«
    »Jedenfalls ist Martti davon aufgewacht«, verkündete Pekka.
    Als er uns den Käfer zeigte, sahen wir, dass es stimmte. Marttis kleine Fühler zitterten.
    Und dann kam sie doch.
    »Ihr habt mich gerufen«, sagte Anna, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war.
    Sie hatte immer noch die Mütze ins Gesicht gezogen, und sie trug immer noch denselben sumpfgrünen Overall.
    »Hast du mir dafür das Horn gegeben? Nur damit wir dich rufen können?«, wunderte ich mich.
    »Wen denn sonst?«, fragte Anna entrüstet.
    »Batman«, sagte Mika.
    »Oder Adler«, sagte Tiina.
    »Oder ein schwarzes Pferd«, sagte Hanna.
    »Keine Ahnung«, sagte Pekka.
    Ich versuchte, meine Enttäuschung zu verbergen. Adler waren vielleicht ein bisschen viel verlangt, aber schon ein Schwarm magere Gänse hätte uns bestimmt mehr genützt als eine verirrte Erstklässlerin. Klar, Anna hatte uns an der neuen Schule schon sehr geholfen. Aber jetzt ging es schließlich um Dinge, die eine Erstklässlerin beim besten Willen noch nicht schultern konnte. Vielleicht nicht mal eine Zweitklässlerin wie ich!
    »Und? Seid ihr jetzt in Not oder nicht?«, wollte Anna wissen.
    »Ja, sind wir«, gab ich zu.
    »Unsere alte Schule ist verloren«, schluchzte Timo.
    »Das Zuhause unseres Lehrers ist verloren«, schluchzte Tiina.
    »Alles ist verloren«, schluchzte ich.
    »Mir fehlt meine Mutter«, schluchzte Mika.
    »Und wo sind die alle hin?«,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher