Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Elidar (German Edition)

Elidar (German Edition)

Titel: Elidar (German Edition)
Autoren: Susanne Gerdom
Vom Netzwerk:
unerschöpflichen Lade zog. Ihre Augen brannten, und alle Finger schmerzten, als er sie endlich entließ.
    »Du wirst es noch lernen, warte nur«, tröstete er sie. »Das einfache Schloss hast du doch schon gemeistert, das ist ein guter Anfang. Du musst nur noch ein wenig mehr auf deine Finger vertrauen. Deine Augen nützen dir nichts bei dieser Kunst. Morgen werde ich sie dir verbinden, damit sie dich nicht mehr ablenken.« Er klapste ihr unbeholfen auf den Rücken und schob sie zur Tür hinaus.

    Karem sollte recht behalten. In den nächsten Tagen begann Tajo, dem feinen Gefühl ihrer Finger und Hände Vertrauen zu schenken. Ihre verbundenen Augen bewirkten zudem, dass sich ihr Gehör auf wundersame Weise schärfte, und sie jedes noch so leise Klicken im Inneren eines Schlosses aufzunehmen und richtig zu interpretieren vermochte. Ihr Lehrmeister zeigte sich zufrieden mit ihren Fortschritten, obwohl er häufig betonte, dass sein neuer Lehrjunge viel zu spät mit seiner Ausbildung bei ihm begonnen habe.
    »Wenn ich dich hätte anlernen können, als du noch vier oder fünf Equils alt warst«, sinnierte er. »Was für einen Meisterdieb hätte ich aus dir machen können! Jetzt ist es zu spät; du wirst möglicherweise ein Könner in unserem Fach, aber sicher kein Meister mehr. Ach, es ist ein Jammer!«
    Meister Karem war trotz seines Lamentierens ein guter, sanftmütiger Lehrer. Tajo fand schnell Vergnügen an der Kunst, die ihr Meister so liebte, und je geschickter sie sich zeigte, desto fröhlicher wurde der alte Dieb. Er erzählte von den goldenen Zeiten, da er noch dem letzten Scha’Yas gedient und die atemberaubendsten Abenteuer erlebt hatte. Der halbblinde Mann nahm sie mit sich auf lange Streifzüge durch die Stadt und zeigte ihr, wie man die Bewohner eines Hauses beobachtete, ihre Vorlieben und Eigenheiten auskundschaftete und die Häuser und Katen selbst auf den besten und am wenigsten gesicherten Einstieg prüfte, ohne dabei Aufsehen zu erregen.
    Tajo schlief auf den gestapelten Schaffellen in Karems stickigem Zimmer, holte ihre Mahlzeiten in der benachbarten Garküche, lauschte seinen Geschichten und lernte.
    Eines Morgens wachte Tajo von den klirrenden und klimpernden Geräuschen auf, mit denen Karem sein Handwerkszeug in einen ledernen Beutel packte. Tajo rieb sich die schweren Augen - ihr Schlaf war kurz gewesen, weil sie unter der strengen Aufsicht ihres Lehrers ihren ersten Einbruch bei Nacht gewagt hatte - und fragte schlaftrunken: »Was tut Ihr, Meister Karem?«
    »Bleib liegen, Junge, ruh dich aus. Ich werde sicher einige Tage fort sein, der Alte Drache hat nach mir verlangt.« Der Dieb zwinkerte ihr zu. »Du hast dir eine Pause verdient.«
    Tajo nickte nur und kroch wieder zwischen die Felle. Als sie erneut erwachte, war der Tag schon weit vorgeschritten. Sie trödelte unentschlossen in Karems düsterer Wohnung herum, dann verbrachte sie den Rest des Tages auf den Straßen des Basars. Es war heiß, und der Wind, der gegen Abend vom Hafen heraufkam, brachte keine Erfrischung. Tajo dachte mit Grausen an die stickige Wohnung des alten Karem und die kratzigen alten Felle ihres Lagers und lenkte kurzentschlossen ihre Schritte zu ihrem alten Unterschlupf. Das Innere des leer stehenden Hauses war immer schön kühl gewesen, dort ließ sich gut schlafen, wenn einen der Modergeruch nicht störte.
    Tajo besaß inzwischen eigenes Werkzeug und machte sich einen Spaß daraus, durch eines der hinteren Fenster in das Haus einzusteigen. Es war eine stockdunkle Nacht, in der sie kaum die Hand vor Augen sah, aber sie kannte das Innere ihres Unterschlupfs gut genug, um auf eine Kerze als Beleuchtung verzichten zu können. Im Dunklen tastete sie sich zur Treppe vor und stieg lautlos hinauf. Karem hatte oft genug mit ihr geübt, wie man das knarrende Holz alter Treppen überlistete, und es machte ihr ein wahrhaft diebisches Vergnügen, das bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu probieren.
    Im oberen Stock öffnete sie die Tür zu einem der ehemaligen Schlafräume und blieb erschreckt stehen. Ein fremder Geruch wehte ihr daraus entgegen, nicht mehr wie früher nach Staub und altem Moder, sondern frisch und ein wenig scharf, wie Minze und kaltes Metall. Etwas regte sich in dem dunklen Gemach, Stoff raschelte.
    Tajo fuhr herum und wollte flüchten, aber es war zu spät. Ein gespenstisches Licht flackerte auf und nagelte sie an ihren Platz. Sie blickte in ein Paar kalter Augen in einem Gesicht, das Tajo an einen Raubvogel
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher