Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Elfenblut

Elfenblut

Titel: Elfenblut
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
Türen offen stehen, sondern auch den Motor laufen – eines der ungeschriebenen Gesetze, an die sich hier jedermann hielt, lautete, dass niemand einen Polizeiwagen stahl – und näherten sich dem Tor im Maschendrahtzaun. Eine Taschenlampe flammte auf und strich über das rostige Drahtgeflecht, um schließlich an dem uralten Vorhängeschloss hängen zu bleiben.
    Pia runzelte die Stirn. Normalerweise ließen es die Männer bei einer flüchtigen Inspektion bewenden, und sie hätte eher darauf gewettet, dass sie es heute noch kürzer machten, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen – mittlerweile waren sie eine gute Viertelstunde zu spät –, aber nun griff einer von ihnen in die Tasche, und sie hörte das Klimpern eines Schlüsselbundes.
    Also gut, dachte sie, wenn der Bursche jetzt das Schloss aufsperrte, um die Baustelle zum ersten Mal gründlich zu inspizieren, dann würde sie auf Jesus (und ihre eigene innere Stimme) hören und abbrechen.
    Die Hand mit dem Schlüsselbund kam wieder aus der Tasche, und Pia setzte dazu an, Jesus im Flüsterton ihre Entscheidung mitzuteilen. In diesem Moment summte das Celular des zweiten Mannes. Er machte sich nicht einmal die Mühe, sich zu melden, sondern klappte das Gerät wortlos auf und hielt es schweigend für wenige Sekunden ans Ohr, dann steckte er es wieder ein und gab seinem Begleiter aus der gleichen Bewegung heraus ein Zeichen, kehrtzumachen. Nur einen Moment später knallten die Türen zu, und der Wagen jagte mit kreischenden Reifen los. Kurz bevor er das Ende der Straße erreichte und abbog, begann das Blaulicht auf seinem Dach zu flackern.
    »Was war das denn?«, murmelte Jesus.
    »Glück?«, schlug Pia vor.
    Jesus schwieg, und sie wusste auch, warum. Das hatte er nicht gemeint.
    Sie ließ vorsichtshalber noch eine weitere Minute verstreichen, dann warf sie einen sichernden Blick nach rechts und links und trat aus ihrem Versteck in den Schatten heraus. Der Wind drehte sich und trug Musik und Gesprächsfetzen aus der Cantina an ihr Ohr, und für einen winzigen Augenblick hatte sie einen Eindruck von schattenhafter Bewegung über sich, aber sie ging trotzdem mit so schnellen Schritten weiter, wie sie es gerade noch konnte, ohne wirklich zu rennen, streckte die Arme nach oben und schwang sich mit einer fließenden Bewegung über das Tor. Die altersschwache Konstruktion zitterte leicht unter ihrem Gewicht; dann ächzte sie hörbar und bog sich ein Stück weit durch, als Jesus ihr auf dieselbe Weise folgte. Nicht einmal dreißig Sekunden nachdem sie ihr Versteck verlassen hatten, schmiegten sie sich nebeneinander in den Schatten eines der großen Baufahrzeuge und wurden erneut vollkommen unsichtbar.
    Und jetzt hieß es warten. Wenn alles so ablief wie die letzten drei Mal, als sie die Übergabe beobachtet hatten, dann würde der Kurier irgendwann innerhalb der nächsten Stunde auftauchen; eine lange Zeit, wenn man wartete, und eine Ewigkeit , wenn man darauf wartete, dass etwas schiefging.
    Pia runzelte abermals die Stirn, verwirrt über ihre eigenen Gedanken. Während sie reglos und bewusst flach atmend in der Dunkelheit kauerte, Jesus’ Wärme und das beruhigende Wissen um seine bloße Gegenwart genoss und ihren Blick dabei über die Landschaft aus Schatten und ineinanderfließenden Umrissen und unheimlichen … Dingen vor sich tasten ließ, gestand sie sich ein, dass sie ganz genau das tat: Sie wartete darauf, dass etwas schiefging.
    Das war neu. Und es war sehr beunruhigend.
    Pia hatte nach dem dritten oder vierten Mal, als sie mit Jesus zusammen unterwegs gewesen war, aufgehört zu zählen. Sie hatten eine stattliche Anzahl Dinger zusammen gedreht, etliche klein, manche größer, und einige ihrer nächtlichen Raubzüge hatten sie sogar auf die Titelseite der Lokalzeitung gebracht (einer geradewegs in Hernandez’ Bett, aber das war auch der einzige Ausreißer in einer langen Erfolgsgeschichte gewesen, und außer dem Comandante und ihr selbst wusste niemand etwas davon). Doch eines hatte sie nie getan: gezweifelt. Sie hatte stets gewusst, wann eine Sache Aussicht auf Erfolg hatte und wann nicht, und prinzipiell die Finger von Letzterem gelassen.
    Beging sie heute ihren ersten wirklichen Fehler?
    Die Antwort, wie sie sich bekümmert eingestand, lautete ganz eindeutig vielleicht , und ein Vielleicht war von einem klaren Nein eigentlich zu weit entfernt, um akzeptabel zu sein. Was zum Teufel also tat sie hier?
    Wieder hörte sie ein Geräusch; dasselbe gleichzeitig
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher