Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eleanor Rigby

Eleanor Rigby

Titel: Eleanor Rigby
Autoren: Douglas Coupland
Vom Netzwerk:
wurde.«
    »Was war das?«
    »Ihm erschienen Farmer in der Prärie, die Weizen anbauten. Obwohl Frühling war, bestellten sie ihre Felder nicht.« »Und dann?«
    »Diese Farmer glaubten, dass die Welt in jenem Winter untergehen würde, daher machten sie sich nicht die Mühe, ihr Getreide auszusäen. Ich glaube, sie steckten ihr Saatgut in Brand. Die Farmer waren überzeugt, dass das Ende der Zeit gekommen sei. Ihre Frauen und Kinder standen auf den Veranden vor ihren Häusern und warfen all die Konserven weg, die sie im Jahr zuvor eingekocht hatten.«
    »Und?«
    »Eine Stimme ertönte vom Himmel. Sie sagte ihnen, dass die Welt stets von Leid erfüllt sei und dass immer Unglücke und Katastrophen geschehen würden, entweder durch ihre eigenen Taten oder durch Gottes Willen. Deshalb sollten sie keine Angst haben - denn das Ende wird ohnehin kommen.« Ich hielt inne und bemerkte, wie heiter das Dachrestaurant wirkte. Jedes der kleinen weißen Lichter bimmelte in meinem Kopf wie ein Kinder-Xylophon. Das Lokal stellte das genaue Gegenteil meiner Gemütsverfassung dar. Ich sagte: »Klaus, ich habe inzwischen oft über Jeremys Visionen nachgedacht. Ich kenne sie in- und auswendig.«
    Da er nichts sagte, fuhr ich fort.
    »Die Farmer hörten eine Frauenstimme am Himmel, die ihnen sagte, dass ein Geschenk auf sie warte. Sie erfuhren, dass sie bald ein Zeichen bekommen und dieses Geschenk erhalten würden. Aber dann sagte die Stimme, dass die Farmer nicht unterscheiden konnten, ob sie wach waren oder schliefen. Sie sagte ihnen, dass sie ihren Glauben an die Möglichkeit der Veränderung verloren hatten. Sie sagte, dass der Tod ohne den Versuch, die Welt zu verändern, das Gleiche sei wie ein Leben, das nie stattgefunden hat. Die Farmer, ihre Frauen und Familien erfuhren, dass sie ihr Geschenk nicht bekommen würden — nicht in jenem Jahr. Doch inzwischen war es zu spät, noch die Felder zu bestellen. Ihre Lebensmittelvorräte hatten sie vernichtet. Sie wussten, dass der Winter kommen würde, und sie hatten keine Ahnung, wie es weitergehen sollte.«
    Klaus hörte mir gespannt, ja, fast aggressiv zu.
    Ich fuhr fort: »Und so standen die Farmer auf der Straße, einer staubigen Schotterpiste. Sie standen dort und beteten um ein Zeichen, das ihnen beweisen würde, dass sie nicht völlig allein gelassen waren.«
    »Und?«
    »Ein langes Seil kam vom Himmel herunter, als würde es aus dem Weltall gesandt. An seinem Ende hing ein menschlicher Knochen. Dann sahen die Farmer, wie sich ein weiteres Seil auf die Erde senkte, und an dessen Ende war ein Totenschädel befestigt. Und dann wurden es immer mehr Seile - mit Hunderten von Knochen daran, die klapperten wie ein Windspiel. Die Farmer wussten, dass sie ihre Botschaft erhalten hatten. Sie waren auf sich allein gestellt, und um sie herum war nur Wildnis. Sie fühlten sich nicht mehr wie Menschen, sondern nur noch wie Vogelscheuchen oder seelenlose Schaufensterpuppen. Ihre einzige Rettung lag darin, an genau das zu glauben, was sie im Stich gelassen hatte.«
    »Und?«
    »Und da hörte die Vision auf. Das war seine, größte Geschichte, aber er hat sie nie zu Ende gebracht.« »Dann war mein Sohn also ein Seher.« »Das könnte man so sagen.«
    Irgendein Musikstück wurde gespielt - Strauß. Es klang, als wäre es schon tausend Jahre alt.
    Klaus schaute mich an und sagte: »Ich bin genau wie unser Sohn. Das ist mir jetzt klar. Wir haben beide den gleichen Punkt erreicht, bevor wir aufgehört haben. Gegen die Wand gefahren sind.«
    Ich weinte.
    »Tut mir leid, Liz.«
    »Warum ist das Leben nie so, wie man es sich wünscht?« Ich war müde. Ich wollte nach Hause, aber mein Zuhause war nicht mehr mein Zuhause. Ich konnte in meiner Wohnung ebenso wenig leben wie auf dem Mars. Sie war ein Gehäuse, nur noch ein Gehäuse.
    Der Ober kam und fragte, ob wir ein Dessert wünschten. Wir lehnten dankend ab. Klaus saß da und starrte auf die glänzende Tischplatte, in der sich all diese hübschen kleinen weißen Lichter spiegelten. Und in diesem Moment wagte ich den entscheidenden Schritt. Ich sagte: »Klaus ...«
    Er sagte »Ja«, aber er schaute mich nicht an.
    Ich legte meine Hand vor ihm auf den Tisch. Ich sagte: »Klaus, du bist auch einsam, nicht wahr?«
    Wieder sagte er »Ja«. Er umfasste mit beiden Händen meine Hand und küsste sie. Er sah mir in die Augen, und in dem Moment verliebten wir uns ineinander. Er wusste es, und ich wusste es auch. Es änderte nichts, und doch änderte es alles.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher