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Eleanor Rigby

Eleanor Rigby

Titel: Eleanor Rigby
Autoren: Douglas Coupland
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abgesehen davon, dass ich die Leiche gefunden hatte, spielte ich keine große Rolle. Ich konnte nur zuschauen. Die eine Frage, die sie nicht stellten, war: Warum haben deine Eltern dir erlaubt, so weit weg von zu Hause allein Blaubeeren zu pflücken? Wie gesagt, so war das nun mal in den Siebzigern.
    Die Polizisten lobten meine Besonnenheit, und sobald sich die Lage etwas beruhigt hatte, bot Ben mir an, mich auf der Lokomotive zum Bahnhof von North Vancouver mitzunehmen. Die Polizisten wollten mich zwar ebenfalls nach Hause chauffieren, aber nach kurzer Diskussion durfte ich mit dem Zug fahren. Ich habe nie wieder so sehr das Gefühl gehabt, mein Los selbst in der Hand zu haben. Es hätte nur jemand wagen sollen, sich mir in den Weg zu stellen, während ich da auf diesem tonnenschweren Stück Schicksal thronte, das über die eisernen Gleise donnerte. Es war phantastisch. Ich war am Leben! Ich war keine Leiche!
    Zu Hause war niemand da, der Zeuge meiner geheimnisvollen Ankunft im Auto eines Fremden werden konnte. Erst als ich in die Luft springen musste, um mir den Hausschlüssel aus seinem Versteck auf dem obersten Mauerstein zu holen, merkte ich, dass ich meinen Tupperware-Behälter mit Blaubeeren mehr als vier Stunden lang absolut waagerecht gehalten hatte und keine einzige Beere verloren gegangen war.
    Als ich am Essenstisch meine Geschichte erzählte, verdrehten alle die Augen, weil sie sie für eine makabre Spinnerei hielten. Mutter sagte: »Du solltest mehr Zeit mit Leuten deines Alters verbringen.«
    »Ich mag keine Leute meines Alters.«
    »Natürlich tust du das. Du weißt es nur noch nicht.«
    »Die Mädchen in meinem Alter klauen und rauchen doch alle bloß.«
    Dad sagte: »Hör bitte auf mit diesen Leichengeschichten, Schatz.«
    »Ich hab mir das nicht ausgedacht.«
    Leslie sagte: »Tanya will nach der Schule Stewardess werden.«
    »Da war wirklich eine Leiche.« Ich ging zum Telefon und wählte die Nummer der Polizeiwache. Wie viele Fünftklässler kennen wohl die Telefonnummer der örtlichen Polizeiwache auswendig? Ich bat darum, dass Officer Nairne meine Geschichte bestätigte.
    Vater griff zum Hörer. »Wer auch immer dran ist, es tut mir leid, aber Liz ... Was? Oh. Wirklich? Das gibt's doch nicht.« Endlich nahm man mich für voll.
    Vater legte auf und setzte sich. »Wie es scheint, hat unsere Liz Recht.«
    William und Leslie wollten blutige Einzelheiten. »Wie verwest war er denn schon, Lizzie?« »Wie Schimmelkäse?«
    »William!« Mutter war pikiert. »Nicht am Essenstisch.« »Eigentlich sah er so aus wie der Schweinebraten, den wir gerade essen.«
    Mutter sagte: »Hör sofort auf, Liz!«
    Vater fügte hinzu: »Du wolltest diese Blaubeeren doch nicht etwa essen, oder? Ich hab sie im Kühlschrank gesehen. Die Bahn versprüht auf ihrem Gelände die schlimmsten Unkrautvernichtungsmittel. Davon kriegt man Krebs.«
    Ein betretenes Schweigen trat ein: »Jetzt kommt schon, ich habe heute eine Leiche gefunden. Warum können wir nicht einfach darüber reden?«
    William fragte: »War er aufgebläht?«
    »Nein. Er hatte nur eine Nacht dort gelegen. Aber er hatte einen Rock an.«
    Mutter sagte: »Liz! Darüber können wir nachher sprechen, aber nicht, ich wiederhole: nicht am Essenstisch.«
    Vater sagte: »Ich finde, du übertr...«
    »Leslie, wie war's beim Schwimmunterricht ?«
    Und schon war mein großer Augenblick wieder vorbei. Aber an jenem Abend begann ich zu glauben, dass ich hellseherische Fähigkeiten hatte und jede Leiche aufspüren konnte, die irgendwo vergraben war. Überall sah ich sie: versteckt im Blaubeerdickicht, unter Rasenflächen, am Wegrand im Park — die Welt war eine einzige große Leichenfabrik. Der Besuch des Friedhofs von Vancouver, als meine Großmutter ein Jahr später beerdigt wurde, wirkte fast wie eine Droge auf mich. Ich konnte nicht nur die Tausenden von Toten sehen, sondern auch, wer erst kürzlich verstorben war und wer nicht. Die frischen Körper waren noch von einem Schimmer umgeben, während die älteren ... nun ja, ihre Besitzer waren an ihren Bestimmungsort entschwunden, wo auch immer der sein mochte. In meinen Augen war ein Friedhof wie ein riesiger Haufen von leeren Flaschen, die darauf warteten, gegen Pfand irgendwo abgeliefert zu werden.
    Ach, Körper. Seufz. Den meinen wollte ich immer schon am liebsten verlassen. Das wäre schön! Ein Lichtstrahl zu sein, ein kleiner, zappelnder Komet, der sich von diesen elenden Knochen befreit. Meine innere Schönheit könnte
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