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Eleanor Rigby

Eleanor Rigby

Titel: Eleanor Rigby
Autoren: Douglas Coupland
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Schminke — abblätternde Grundierung, Mascara und eine falsche Wimper, die noch an seinem Lid klebte - war es bereits grau geworden. Überall summten Fliegen herum. Ich fragte mich, wer der Mann gewesen war und warum er einen Rock trug.
    Der Rock. Was jetzt kommt, ist so peinlich, dass ich es noch nie jemandem erzählt habe: Ich nahm ein Stück von einem Erlenast, streifte die Blätter ab und ging dann zu der unteren Hälfte der Leiche hinüber. Ich hatte das Bedürfnis, den Rock zu lüpfen und nachzusehen, ob die ... nun ja, ob die untere Hälfte zu der oberen passte, und das tat sie. Er hatte noch nicht mal eine Unterhose an.
    Wer ihm das wohl angetan hatte? Ich schaute mich um, aber kein einziges Kraut, kein einziger Gänseblümchenstengel war abgeknickt oder blutig. Es gab keinerlei Hinweise darauf, dass das Gemetzel an diesem Ort stattgefunden hatte. Selbst für eine Zwölfjährige war es ziemlich offensichtlich, dass der Leichnam hier nur entsorgt worden war. Während ich da so in der Hitze herumstand, bekam ich plötzlich Durst. Ich weiß noch, dass mich weder der Leichnam an sich noch der Rock so sehr irritierte wie das Make-up des Toten.
    Ich bin sonst nicht besonders dickfellig und war es nie. Die meisten Menschen hätten sich vermutlich übergeben oder weggeschaut, ich jedoch nicht. So muss es Gerichtsmedizinern ergehen. Ich vermute, ob man zart besaitet ist oder nicht, ist wohl angeboren. OP-Szenen im Fernsehen? Ich bin dabei. Um es ganz unverblümt zu sagen: Der Leichenfund beeindruckte mich ungefähr so sehr wie ein Stück rohes Bratenfleisch.
    Und außerdem - und das ist etwas, das mir erst Jahre später klar wurde — verlieh mir diese Nähe zu etwas so absolut Totem ein Gefühl von ... ewigem Leben, von ... Unsterblichkeit.
    Ich blieb ungefähr fünf Minuten lang stocksteif stehen, bis ich in der Ferne einen Zug aus Richtung Norden hörte, aus Squamish. Es war der Royal Hudson, ein altmodischer Dampflokzug, der aufpoliert und zur Touristenattraktion gemacht worden war und nun den Howe-Sound-Fjord entlangstampfte. Ich stand inmitten der Weidenröschen, der Kamille und des Löwenzahns neben der Leiche und wartete auf den Zug. Mein Blick wanderte ständig zwischen dem Körper und der Gleisbiegung hin und her, um die der Zug kommen würde, während das Zischen und Stampfen immer näher kam.
    Schließlich ächzte der Royal Hudson um die Kurve. Ich stand mitten auf den Gleisen, den brennenden Teergeruch von den Bahnschwellen in der Nase, und schwenkte die Arme. Der Lokführer sagte später, ihm wäre fast das Herz stehen geblieben, als er mich dort sah. Er stieg in die Bremsen, und ein Kreischen ertönte, wie ich es bis dahin noch nie gehört hatte. Es war so schrill, dass es Zeit und Raum außer Kraft setzte. Ich glaube, das war der Moment, in dem ich aufhörte, Kind zu sein. Nicht wegen der Leiche, sondern durch dieses Geräusch.
    Die Lokomotive kam ein paar Waggons hinter der Leiche und mir zum Stehen, und der Lokführer, der Ben hieß, und sein Heizer sprangen herunter. Als sie anfingen, mich wüst zu beschimpfen, weil ich ihnen so einen üblen Streich gespielt hatte, deutete ich bloß auf die verstümmelte Leiche.
    »Was zum ...? Barry. Komm mal her.« Ben schaute mich an. »Geh da weg, Kleine.«
    »Nein.«
    »Hör mal, du gehst da sofort ...« Ich starrte ihn bloß an.
    Barry kam zu uns, riskierte einen Blick und musste sich prompt übergeben. Ben trat näher heran. Sicherheitshalber guckte er die Leiche einfach nicht an. Ich hingegen konnte gar nicht genug von ihr kriegen. Er sagte: »Meine Güte, Mädel — hast du nicht alle Tassen im Schrank?«
    »Ich hab ihn gefunden. Er gehört mir.«
    Barry funkte von der Lok aus die Polizei an. Natürlich gafften die Touristen aus den Zugfenstern und knipsten wie verrückt. Heutzutage würden die Fotos bestimmt innerhalb weniger Stunden ins Internet gestellt, aber damals gab es nur die Lokalzeitungen, von denen keine darüber schreiben oder Bilder der Leiche veröffentlichen durfte, bevor die Angehörigen nicht gefunden und benachrichtigt worden waren. Als die Passagiere aus dem Zug klettern wollten, um nachzusehen, was los war, konnte sich Barry nützlich machen, indem er sie lautstark aufforderte, wieder einzusteigen. Beim Eintreffen der Polizei hatte er die Reibeisenstimme eines alternden Starlets.
    Die Polizisten stellten mir Fragen. Hatte ich irgendetwas angerührt? Hatte ich jemanden gesehen? Die Sache mit der Erlenrute behielt ich für mich. Aber
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