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El Camino Amable

El Camino Amable

Titel: El Camino Amable
Autoren: Marlies Curth
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Eindruck, welch aufwendiges Leben hier einmal stattgefunden haben muss. Es ist schon beeindruckend, wie gut ein Bischof hier früher leben konnte.
    Um 12 Uhr bin ich wieder in der Pilgermesse. Ich habe inzwischen gelesen, dass die Eingangslieder täglich wechseln und der Gottesdienst auch schwerpunktmäßig immer Elemente aus anderen Sprachen enthält. Diesmal ist das Eingangslied auf Deutsch und auch heute ist der Gottesdienst wieder beeindruckend. Ich kann etwas aufmerksamer als gestern die Umgebung beobachten und sehe mit Erstaunen, dass während der Messe immer wieder Menschen eine kleine Treppe hinter dem Altar hinaufgehen und den heiligen Jakobus umarmen. Diese Geste soll Glück bringen.
    Als Besucher der Messe kann man die Menschen nicht sehen, aber ihre Arme sehr wohl, und es sieht lustig aus, wenn sich immer wieder Arme um Hals und Schultern des Apostels legen. Als ich die Kirche verlasse, treffe ich Gert und Traute, die noch mit Rucksack und gerade noch rechtzeitig zur Messe eingetroffen sind. Ich begleite die beiden zur Pilgerherberge — heute bin ich mal dran mit „engeln“. Dann kaufe ich am Busbahnhof mein Ticket für die Busfahrt nach Bilbao und rufe anschließend dort in der Jugendherberge an, um mir einen Platz zu reservieren. Ich komme mit dem Bus erst abends an, da könnte es wieder schwierig werden, eine Unterkunft zu finden. Wie bei meiner Ankunft — das ist schon so lange her. Anschließend bummle ich durch die Altstadt und treffe mich um 19 Uhr wieder mit Theo und Pia. Pia mag den Platz vor der Kathedrale gar nicht verlassen, obwohl sie ebenfalls Hunger hat. Sie sagt, sie freut sich über jedes bekannte Gesicht und fühlt sich hier als Teil des ganzen Camino. Das Gemeinschaftsgefühl ist hier besonders stark — und nicht in den Restaurants.
    Wir gehen wieder in den „Schwarzen Kater“, es ist dort wirklich einfach eingerichtet, rappelvoll und oberlecker. Unsere Gespräche auf Deutsch, Italienisch und Französisch sind sehr offen und auch überaus fröhlich. Der arme Theo tut mir manchmal ein bisschen leid, denn Pia kann nur Italienisch, ich aber nicht, sodass unsere Unterhaltung vorwiegend auf Französisch stattfindet. Das beherrscht Pia aber nur bruchstückhaft. Sie beginnt ihre Sätze auf Französisch, spricht dann auf Italienisch weiter und Theo, der alle drei Sprachen beherrscht, muss übersetzen.

    Danach gehen wir noch einmal zurück zur Kathedrale und setzen uns auf eine Mauer, um einem jungen Gitarrenspieler zuzuhören, der klassische spanische Gitarrenmusik ganz ausdrucksstark spielt - auf der Mauer gegenüber. Hinter ihm leuchtet die Fassade der Kirche, wir sitzen zwischen vielen anderen Menschen, einige Kinder spielen auf dem Weg und die Möwen kreischen in der untergehenden Sonne. Seine etwas melancholischen Melodien drücken genau diese Stimmung aus, schaffen die Atmosphäre von Abendstimmung und Abschied...
    Dann quietscht Pia auf, sie hat das nette französische Paar aus Paris, das ich in Molinaseca kennengelernt habe, unter den Passanten entdeckt. Die beiden freuen sich ebenfalls unbändig. Sie sind heute über 50 Kilometer gelaufen, haben gerade eine Unterkunft gefunden, die Rucksäcke dort deponiert und haben tierischen Hunger. Also eskortieren wir sie zum „Schwarzen Kater“ — aber dort ist es proppenvoll und sie können und wollen nicht mehr warten. Während sie ins nächste Restaurant weitergehen, bestellen wir in einem Straßenlokal einen kleinen Hierbas als Absacker. Die Flasche wird aus dem Eisfach geholt und hat kein Etikett. Das war bei den Weinen unterwegs auch so — und sie waren ausgesprochen gut. Dieser Hierbas ist es auch. So hocken wir auf Barhockern vor dem Eingang, lassen die Passanten vorüberziehen und philosophieren ein wenig darüber, ob heute jeder von uns schon sein „Geschenk“ — die kleine Überraschung, das tägliche Wunder, von dem Philippe sprach - bekommen hat. Wir überlegen einen Augenblick und stellen dann fest, dass auch heute jeder ein Geschenk erhalten hat. Pia meint, wir müssen auch weiterhin im „wirklichen Leben“ sensibel dafür bleiben. Als wir unsere Geschenke vergleichen, stellen wir fest, dass sie heute aus der Begegnung mit Menschen bestanden haben, einem Lächeln, einer netten Bemerkung.

    „War der Camino freundlich zu dir?“, hat mich unterwegs jemand gefragt. Ja, das war er. Er hat mich durch einen wunderbaren Sommer in einer beeindruckenden Landschaft geführt. Er hat mir die Ruhe gegeben, die ich gesucht
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