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EisTau

EisTau

Titel: EisTau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilija Trojanow
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psychologisches Gutachten. Und ohne Übergang und ohne ein Wort des Bedauerns informiert er mich über die weiteren Entwicklungen hinsichtlich des SOS-Projekts von Dan Quentin. Er scheint in der Zwischenzeit Gefallen daran gefunden zu haben. Es ist nichts als Klamauk, sage ich, durch seine Standpauke von allen diplomatischen Zwängen befreit. Ich solle es ordentlich hinter mich bringen, dann könne ich einen würdigen Abgang hinlegen. Was erhoffen Sie sich davon, wollen Sie auch einmal in eine Talk-Show eingeladen werden? Unverschämtheit stehe mir schlecht zu Gesicht. Das ist nicht unverschämt, sondern unverstellt, ein SOS ohne konkreten SOS-Grund, das ist lächerlich, Sie machen sich zum Steigbügelhalter eines Karussellpferdereiters. Ich solle aufhören, mich aufzuplustern, und dafür sorgen, daß dieses Kunstwerk zustande komme, auf meine obskuren Ansichten lege niemand Wert. Dieses Kunstwerk kann nicht gelingen, es sei denn, es kommt tatsächlich zu einer Havarie, ja, das ist es, wenn das SOS der Passagiere ein authentisches SOS werden sollte, das wäre ein Erfolg, was meinen Sie, wie gut sich die Fotosdann vermarkten ließen? Ich solle mir meine Heftigkeiten sonstwohin stecken und meine Arbeit erledigen, eine Übung, eine Stunde, ein Foto, ein Höhepunkt am Ende einer schönen Reise, das sei doch nicht so schwer, danach brächten wir die Leute nach Hause, um mehr gehe es hier nicht. Der Kapitän hat mir nichts mehr zu sagen, die Entscheidungsträger mustern mich wie eine Jahrmarktsattraktion.
     
     
    Auch der Pianist beäugt mich. Er wird nicht sagen, was er mir zu sagen hat, solange andere in der Runde sitzen, zumal nicht in Anwesenheit der mageren Neuseeländerin, die mit ihrer greisen Mutter unterwegs ist und sich danach sehnt, ohne Mutter wahrgenommen zu werden. Seit dem gestrigen Abend ist der Pianist dabei, ihrem Verlangen zu entsprechen, etwas überhastet, doch die Neuseeländerin macht nicht den Eindruck einer Person, die es sich leisten kann, auf dem richtigen Tempo zu bestehen. Sie fragt mich, ob es stimme, daß sie in Port Lockroy Postkarten verschicken könne, was ich bestätige, und ich nutze gleich die Gelegenheit, ihr etwas über diesen britischen Vorposten zu erzählen: Diese alte Walfangstation wurde zu Spionagezwecken umgerüstet, weil die Briten befürchteten, deutsche Schiffe könnten sich in den natürlichen Häfen entlang der antarktischen Halbinsel verstecken. »Tabarin« hieß die Operation, höchste Geheimhaltungsstufe, selbst Churchill wurde erst mit Verspätung informiert, die entsandten Matrosen wachten über die Meerenge von Bransfield, sie wachten und wachten, Tage vergingen, Wochen, Jahre, die Deutschen tauchten nicht auf, sie hatten die Antarktis wohl vergessen, zudem waren sie anderweitigbeschäftigt, den stationierten Männern blieb nichts anderes übrig, als bis zum Kriegsende Duff Pudding zu mampfen und Lyle’s Golden Syrup von ihren Löffeln abzuschlecken. Das Ganze war also völlig vergeblich, fragt die neuseeländische Mutter etwas einfältig. Nicht ganz, es gelang immerhin, die argentinische Flagge von Deception Island zu entfernen. Wie immer, unterbricht mich der Pianist, wenn sein geschätzter Freund, der Expeditionsleiter, etwas erzähle, gebe er nur die Hälfte der Geschichte wieder, es müsse unbedingt erwähnt werden, daß zuvor, im Jahre 1939, die Nazis von Wasserflugzeugen aus Hakenkreuze über der Antarktis abwarfen, auf Aluminiumdrachen gespannte Hakenkreuze, um einen Teil von Queen Maud Land für sich zu reklamieren. Die mit Hakenkreuzen markierte Gegend habe sogar einen eigenen Namen erhalten: Neuschwabenland. Die Neuseeländerin ist von der Wendung der Geschichte oder dem einstudierten Charme des Pianisten entzückt, sie lächelt gesittet, wiederholt New Swabia wie eine gelungene Pointe; auch hinter meinem Rücken, an der Bar, wird gewitzelt, einige Männer fraternisieren sich mittels Schenkelklopferei mit Erman, hör zu, das wird dir gefallen, mein Name ist Walker, und mein Vorname ist John, also John Walker, und mein Spitzname … na … mein Spitzname lautet Johnnie!, wer hätte das gedacht, und jetzt schenkst du ein, dem Johnnie Walker einen Johnnie Walker, einen doppelten Johnnie Walker also, das muß sein, nicht wahr, das geht nicht anders; heute mittag, eine andere Stimme drängt sich auf, was war es auf einmal düster, so düster, vom Bug aus hat’s den Anschein gehabt, als fahre unser Schiff in das Land der Toten, eine weitere Stimme platzt

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