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Eismord

Eismord

Titel: Eismord
Autoren: Giles Blunt
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Jeep.«
    Der alte Mann sah sie an und schüttelte angewidert den Kopf.
    »Allerdings, die sind direkt nach Jack los. Schätze, die Reifenspuren von diesem Jeep sind ziemlich schnell wieder eingeschneit. Ich hab keine Ahnung, wo sie hinwollten und wann sie zurückkommen, ich weiß nur ziemlich sicher, dass dies hier das erste und letzte Mal sein wird, wo ich mit Ihnen allein bin. Würden Sie das also freundlicherweise ausnutzen und Ihren dürren Arsch bewegen? Ich dachte, alte Leute wären klug.«
    »Stimmt. Und junge Leute sollten unschuldig sein.«
    »Na schön, dann sind wir ja quitt.«
    Der alte Mann sah sie weiter unverwandt an. Er hatte ein schmales, längliches Gesicht, und die pergamentdünne Haut an seinen Wangen war von der Kälte rot gefärbt. Er erinnerte Nikki an einen Hasen, und sie war kurz davor, ihn anzubrüllen, er sollte sich gefälligst umdrehen, als er es schließlich von sich aus tat – sich zu ihr umdrehte, einen Schritt durch den Schnee machte, dann noch einen und breitbeinig wie eine Ente vor ihr stand.
    »Seh’n Sie, ist doch gar nicht so schlimm«, sagte Nikki. »Wir sind in kürzester Zeit auf diesem Highway. Da kommt früher oder später irgendeiner vorbei und nimmt Sie mit.«
    Sie wusste, dass das nicht wirklich logisch klang. Welchen Grund sollte sie wohl haben, ihn wohlbehalten in die Stadt zu schicken. Sie hatte ihm das feierliche Versprechen abgenommen, dass er einen Tag warten würde, bis er die Polizei verständigte, dabei wäre das natürlich das Erste, was er machen würde. Er musste wissen, dass Papa im Haus auf ihre Rückkehr und ihre Bestätigung wartete, dass sie es getan hatte. Bis dahin hatte sie Angst, Jack über den Weg zu laufen. Jack war so verrückt, dass man nicht immer sagen konnte, ob man lebend davonkam oder nicht.
    Der alte Mann blieb stehen. Selbst durch seinen schweren Parka sah sie, wie sich seine Schultern hoben und senkten. Er drehte sich erneut zu ihr um.
    »Alter, sind Sie auf Crack? Oder ist Ihnen einfach entgangen, dass wir in den Ausläufern eines Blizzards stecken?«
    »Wie alt bist du, junge Dame?«
    »Im Februar werde ich vierzehn.«
    »Vierzehn im Februar.« Er lächelte und entblößte lange Hasenzähne zwischen leuchtend rosa Wangen. »Im Februar werde ich sechsundsiebzig Jahre alt.«
    »O mein Gott, da haben wir ja eine Menge gemein! Hätten Sie wohl die Güte, weiterzulaufen?«
    Der alte Mann rührte sich nicht, sondern starrte sie und ihr Jagdgewehr – für den Fall, dass sie irgendwo einen Fasan fürs Abendessen entdeckte, hatte sie ihm gesagt – an. »Dieser Mann ist nicht dein Vater.«
    »Und ob er das ist, in jeder Hinsicht, die zählt.«
    »Hat dich großgezogen, ja? Von klein auf? Hat dir die Windeln gewechselt? Hat dich zur Schule gebracht? Dafür gesorgt, dass du deine Hausaufgaben machst? Dir abends eine Gutenachtgeschichte erzählt? Dir Lesen und Schreiben beigebracht und wie man mit anderen Leuten klarkommt? Hat also alle Aufgaben eines Vaters erfüllt?«
    »Mich großgezogen? Nein. Mich gerettet, ja. Ich war völlig am Arsch, Mr. Kreeger, ich hätt’s nicht mehr lang gemacht, und Papa hat mich vor der dicken Ziegelmauer bewahrt, an der ich mir mit Sicherheit die Birne eingeschlagen hätte.«
    »Du hast auf der Straße gelebt?«
    »Stellen Sie sich allen Scheiß vor, den man machen kann, und Sie können drauf wetten, ich hab ihn gemacht. Und jetzt gehen Sie endlich weiter, bevor ich sauer werde.«
    »Ich würde allerdings das, wo du jetzt bist, nicht gerade als ›gerettet‹ bezeichnen.«
    »Was?«
    »Ich würde das, wo du im Moment gelandet bist, nicht als die Rettung bezeichnen.«
    »Sie wissen nicht, wo ich vorher war.«
    »Und ich kann in Papa nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Vater erkennen.«
    »Weil Sie den Mann nicht kennen.«
    »Hast du mal in die Baracke geschaut, Nikki?«
    »Nein, wieso sollte ich.«
    »Du meinst, man hat es dir verboten.«
    »Mir ist egal, was da drin ist.«
    »Nicht ›was‹ – sondern ›wer‹. Er hieß Henry. Er war Indianer – First Nations –, er selbst hat sich immer als Indianer bezeichnet. Er muss so vierundvierzig, fünfundvierzig gewesen sein. Um einiges jünger als dein selbsternannter Papa. Er war vermutlich so in deinem Alter, als ihm klar wurde, dass er Alkoholiker ist. Kam einfach nicht davon los. Er trug einen tiefen Schmerz in sich, der ihn nie losließ und der nur unter Alkohol besser wurde. Außer Alkohol half gar nichts, andererseits machte der alles natürlich
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