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Eiskaltes Herz

Eiskaltes Herz

Titel: Eiskaltes Herz
Autoren: Ulrike Rylance
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sagte Hendriks Bruder zu mir. Ich verstand nicht ganz, warum derjenige nicht hinten sitzen konnte und wieso wir überhaupt noch jemanden abholen mussten, wenn Leander uns doch brauchte, aber manchmal ist man einfach zu dämlich oder zu höflich oder beides.
    »Was genau ist denn passiert?«, fragte ich, als ich hinten saß und er sofort losfuhr. Ben starrte uns mit offenem Mund hinterher. »Jetzt sag endlich.«
    Er antwortete nicht. Wieso antwortete er nicht?
    »Hallo?«, sagte ich. »Wie heißt du eigentlich? Was hat Leander dir erzählt?«
    Er schwieg. Mir wurde heiß. Irgendetwas stimmte hier nicht. Das war nicht Hendriks Bruder.
    Der Typ antwortete immer noch nicht. Stattdessen verriegelte er die Türen.
    »Hey!«, sagte ich. »Was soll denn das?« Mein Verstand weigerte sich, das Offensichtliche zu verstehen. »Lass mich aussteigen!«
    Er reagierte nicht, fuhr stumm weiter, ich sah nur seine Sonnenbrille im Rückspiegel. Im Nu waren wir in einer verkehrsarmen Seitenstraße. Er sah aus wie ein Albino mit seiner beschissenen Brille.
    Das Auto, in dem ich saß, roch nach kaltem Rauch.

25
Juni
    »Steig aus.« Der Skarabäus, von dem ich mir jetzt sicher bin, dass er Max ist, windet sich aus seinem Sitz. »Wir gehen jetzt zusammen da rein, ganz nett und friedlich. Du holst das verdammte Ding und lächelst dabei, kapiert?«
    Ich nicke. Ob noch jemand in der Schule ist? Ob ich jemandem ein Zeichen geben kann? Es ist jetzt fast 17.30 Uhr. Vielleicht der Hausmeister? Die Putzkolonne? Leute, die in der Turnhalle noch Training haben? Eifrige Lehrer, die sich nicht von ihrer Arbeit trennen können?
    »Und wenn du zu irgendeinem auch nur ein Sterbenswörtchen sagst …« Er erhebt nicht mal seine Stimme. Zündet sich nur eine weitere Zigarette an. Ich hoffe, er stirbt so bald wie möglich an Lungenkrebs. »Ich hab dich gewarnt.« Er tippt vielsagend auf seine Brusttasche mit dem Handy darin. Und schiebt mich, damit ich mich endlich in Bewegung setze. Ich will nicht. Ich will nicht da rein und das Handy holen, denn was passiert, wenn ich es ihm gegeben habe? Bislang habe ich diesen Gedanken erfolgreich verdrängt, aber jetzt kommt die Stundeder Wahrheit. Ich schleppe mich über den Schulhof, meine Achselhöhlen klamm, trotz der schwülen Luft. Ich stinke wahrscheinlich mittlerweile total nach Schweiß. Nach Angstschweiß. Es ist kein Mensch zu sehen, nur eine dicke graue Katze, die auf der Mauer sitzt.
    Meine Hoffnung, dass die Tür abgeschlossen ist, zerschlägt sich wenige Sekunden später. Obwohl – das bedeutet, dass sich noch jemand hier aufhält, oder nicht? Ich steige die Treppen hoch, der Skarabäus folgt mir und schnauft dabei. Keine Kondition, zu viele Zigaretten. Vielleicht kann ich ihm einfach davonrennen? Aber da ist immer noch Leander in dieser verpissten Bude in der Hagedornstraße.
    »Lena, bist ja auch noch hier.«
    Ich erstarre. Vor mir steht plötzlich unser Kunstlehrer mit seiner ausgebeulten Cargo-Hose und einer großen Rolle Papier in der Hand. Sein freundliches Gesicht mit dem Vollbart lächelt mich an.
    Ich bin so perplex, dass ich gar nichts sagen kann.
    »Tag«, sagt der Skarabäus und stößt mich von hinten leicht in die Rippen.
    »Tag, Herr Leschner«, krächze ich. »Hab was vergessen.«
    »Willkommen im Klub«, sagt er und lacht. »Ich war auch schon zu Hause und dann fiel mir ein, dass ich doch die Poster noch laminieren wollte für morgen.«
    »Ach«, antworte ich. »Na so was.« Ich sehe ihn an, blinzele heftig, beiße mir auf die Lippen. Wie kann ich ihm nur signalisieren, dass er mir helfen soll?Ich kämpfe mit den Tränen beim Anblick dieses gutmütigsten aller Lehrer, der in wenigen Minuten nach Hause gehen wird zu seiner Frau und den kleinen Zwillingen, von denen er ein Foto im Kunstraum stehen hat. Ob er sich auch nur eine Sekunde lang fragen wird, was mit der wie versteinert dastehenden Schülerin aus der zwölften Klasse los war? Wahrscheinlich nicht.
    »Na dann«, sagt er auch schon prompt. »Noch einen schönen Abend.«
    »Ebenfalls«, krächze ich und da geht er schon weiter.
    »Na los«, sagt der Skarabäus leise. Ich steige die restlichen Stufen hoch bis in die letzte Etage, er folgt mir und wir treffen niemanden mehr. Ich öffne meinen Schrank, klaube das Handy aus dem Knäuel verschwitzter Sportsachen heraus und reiche es ihm. Kommentarlos lässt er es in seine Tasche gleiten. Er macht eine Kopfbewegung und wir treten den Rückzug an. Herr Leschner bleibt verschwunden, doch
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