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Eis und Dampf: Eine Steampunk-Anthologie (German Edition)

Eis und Dampf: Eine Steampunk-Anthologie (German Edition)

Titel: Eis und Dampf: Eine Steampunk-Anthologie (German Edition)
Autoren: Mike Krzywik-Groß , Torsten Exter , Stefan Holzhauer , Henning Mützlitz , Christian Lange , Stefan Schweikert , Judith C. Vogt , André Wiesler , Ann-Kathrin Karschnick , Eevie Demirtel , Marcus Rauchfuß , Christian Vogt
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holen, was meiner Firma gehört.“
    Möglicherweise gab es ja eine diplomatische Lösung für das Problem. „Ich erkenne eine Niederlage, wenn ich sie sehe. Nehmen Sie die Puppe.“
    „Nein!“, schrie Aurora.
    Ich ging ein paar Schritte auf den weißhaarigen Ængländer zu. Mit Nachdruck fuhr ich fort: „Nehmen Sie die Puppe und lassen Sie uns gehen. Wir verschwinden von hier, und Sie werden niemals wieder von uns hören. Was meinen Sie?“
    Der Bärtige lachte auf. Sein Gefühlsausbruch dröhnte durch den Palazzo. Ich war konsterniert.
    „Die Puppe? Sie denken, ich will die Puppe? Nein, Mister Tadeusz, es ist nicht dieser veraltete Prototyp, nach dem es mich und meinen Auftraggebern verlangt. Ich will das Mädchen!“ Er wies auf Aurora. „Sie ist wertvoller als alles, was sie sich vorstellen können.“
    Ich begriff nicht. „Was ist an ihr so besonders, verflucht? Ein paar moralische Verfehlungen rechtfertigen noch lange nicht ihr Gebaren.“
    „Sie verstehen es wirklich nicht, Tadeusz, oder? Sie ist eine Shelly.“
    „Was?“ Ich fuhr herum und sah Aurora an. Nichts an ihr ließ mich daran zweifeln, dass sie ein Mensch war. „Das kann nicht sein!“
    „Wissenschaft ist etwas Herrliches, nicht wahr? Wie heißt es in Ihrem Heimatland doch so schön: Stillstand bedeutet Untergang. Die Wissenschaft steht nie still. Miss Garibaldi hier“, erneut wies er auf Aurora, „ist das beste Beispiel. Sie ist ein Meisterwerk. Absolut lebensecht, lange Energielaufzeiten und eine Persönlichkeitssimulation, die es beinahe mit einem echten Bewusstsein aufnehmen kann. Sie ist der Messias unter den Maschinen, die Göttin der Erfindungen, das Herausragendste, was ein Wissenschaftler seit Galileo geleistet hat. Mein Freund Professor Clockworth-Merenge war mehr als entrüstet, als er ihr Fehlen bemerkte.“
    „Sag, dass es nicht wahr ist“, wandte ich mich an Aurora.
    „Sie zweifeln? Zeig es ihm“, fordere der Mann Aurora erheitert auf.
    Sie blickte unsicher zu Boden und schien abzuwägen, was zu tun sei. Nach langen Augenblicken stand sie auf und ließ das Kleid fallen. Ihre Nacktheit schien sie nicht zu stören. Aurora griff sich seitlich an den Hals. Ein leises Klicken ertönte. Dann klappte sie ihr Gesicht zur Seite. Mir wurde schlecht.
    Hinter der Maske eines wunderschönen Antlitzes kamen filigrane, mechanische Apparaturen zum Vorschein, die ihren Schädel ausfüllten – Zahnräder, elektronische Spulen und Drähte. Ich erkannte menschliche Augen und die Zunge, die auf metallischen Schienen befestigt waren. Mir wurde schwindlig, und ich musste mich festhalten, um nicht zu fallen.
    „Es tut mir leid, Kemil Tadeusz. Ich hatte Angst, du könntest es nicht begreifen, wenn ich es dir sage. Ich befürchtete, du würdest mir und Galileo nicht mehr helfen, und ich hatte doch so gehofft, du könntest mich zu meiner Familie nach Florenz bringen. Du solltest mein Held sein.“
    Ich wandte mich an den weißhaarigen Ængländer. „Was haben Sie da erschaffen? Ich dachte, Sie stehen für Moral und Anstand ein?“
    „Das tue ich. Doch hier dreht es sich um etwas Größeres als um das Schicksal dieser jungen Frau. Sie ist die Erste von unzähligen neuen Arbeitern. Wenn die Testreihe beendet ist, werden sie Tausende von diesen Shellys in ænglischen Betrieben finden. Sie werden die Grundlage einer neuen Weltordnung sein, deren Zentrum London ist. Die Grundlage von Wohlstand und unbegrenzter Expansion. Warten sie ab, Mister Tadeusz, in weniger als fünf Jahren haben wir ein ænglisches Reich aufgebaut, das in Europa seinesgleichen sucht.“
    „Aber es sind Shellys!“, entrüstete ich mich.
    „Moral wird von den Siegern diktiert, Mister Tadeusz, und Ængland wird siegen. Versuchen Sie erst gar nicht, mich wegen der Interpretation meiner humanistischen Werte zu diskreditieren. Der Zweck heiligt die Mittel.“
    „Sie sind wahnsinnig!“
    „Nein, ich bin Patriot.“
    „Aber wie haben Sie das gemacht? Shellys stellt man aus den Körpern Verstorbener her. Wie kann Aurora noch einen Geist haben?“
    „Nun, sagen wir mal so: Als sie zu uns kam, war sie noch nicht ganz tot. Ich würde beinahe behaupten, sie war bei bester Gesundheit. Wenn man einmal von ihrem lockeren Lebenswandel absieht. Wir hielten sie so lang wie möglich bei Bewusstsein, während wir ihren Intellekt und die Hülle verpflanzten. Sie müssen sich das wie das Umtopfen einer Blume vorstellen. Nur, dass man sie die ganze Zeit gießen muss.“
    Mir wurde schlecht.
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