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Einschlafbuch Fuer Hochbegabte

Einschlafbuch Fuer Hochbegabte

Titel: Einschlafbuch Fuer Hochbegabte
Autoren: Dietmar Bittrich
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ohnehin müde genug.
    Und Norma alias Marilyn? Sie machte ebenfalls Licht und begann zu lesen. Ihre bevorzugte Nachtlektüre war, nach Aussage ihrer Ehemänner, romantische Dichtung. Vor allem schätzte sie den englischen Poeten William Wordsworth und den übersetzten Heinrich Heine. Half das? Anfangs ja. Die Lyrik schuf eine idyllische Sphäre. Die Reime lullten ein. Wie Schlaflieder empfand Marilyn die romantischen Verse. Diese Kunst wirke auf Geist und Körper »wie das Schaukeln einer sachte bewegten Wiege«.
    Das klingt anheimelnd. Als die poetische Leserin im Laufe ihrer Karriere jedoch den Druck wachsen spürte, reichten die Wiegenlieder nicht mehr. Um das Anbranden beunruhigender Gedanken zu besänftigen, griff sie zu einem Hilfsmittel, das damals bedenkenlos verschrieben wurde: Schlaftabletten. Es war eine Zeit, in der man für alles eine Pille zu haben glaubte, oder auch gegen alles, und immer ohne Nebenwirkungen. Bei Marilyn führte dieser Glaube binnen Kurzem zu ewigem Schlaf.
    Den Gedankenfluss verlangsamen und dimmen: Das ist bis heute das Ziel der längst abgeschwächten Schlafmittel, auch der Kräutertees und Baldrianpillen, der abendlichen Gänge um den Block, der Atemübungen auf dem Balkon und des Schäfchenzählens.
    Dass Schlafmittel den Gedankenstrom beruhigen, gilt als gesichert. Hirnforscher der University of California in San Diego bestätigten jedoch auch die Wirkung monroehafter und urgroßmütterlicher Rezepte. Im Schlaflabor lieferten Enzephalogramme den Beweis. Beim Lesen idyllischer Gedichte beruhigt sich die Aktivität des Gehirns genauso wie bei Entspannungsübungen, Meditationen oder beim Schlürfen von Milch mit Honig. Das Recyceln problematischer Gedankenschleifen nimmt ab. Die Impulse kommen in geringerer Frequenz und mit nachlassender Intensität – selbst bei einem so häufig veralberten Mittel wie Schäfchenzählen.
    »Schäfchenzählen wirkt wie ein Mantra«, lobt der Neurologe David Shannahoff. Beim imaginären Vorbeitrotten der Lämmer ebenso wie beim Murmeln eines Mantras oder wie bei Marilyns lieblichen Reimen, entsteht ein einlullender Takt geduldiger Wiederholung.
    Woher kommt die Wirkung? Das langsame Schaukeln, das die Hollywoodkönigin als so wohltuend empfand, weckt eine in die Zellen gesenkte Erinnerung. Eine Erinnerung an die früheste Kindheit, sogar an die Zeit davor. Der Schaukelrhythmus der Schlaflieder und der stimmungsvollen Gedichte ist ein Abglanz jenes sanften Schaukelns in alten Kinderwiegen und Stubenwagen.
    Wir entsinnen uns nostalgischer Bilder: Der kleine Häwelmann liegt in einer Wiege auf Rädern, in einem Korbwägelchen, das innen hübsch ausgeschlagen ist und das von Mutter oder Amme sanft hin- und herbewegt wird. Übrigens war Der kleine Häwelmann das Lieblingseinschlafbuch des reifen Autors Thomas Mann. Kinderbücher, so vertraute er seinem Tagebuch an, lösten die Knoten der verschlungensten Gedanken. Sofern es gelingt, sich darin zu versenken.
Imaginierte und tatsächliche Schaukelbewegungen erinnern den Körper an eine Zeit, als kein Planen, kein Abwägen, keine Entscheidungen nötig waren. Als Gedanken noch keine Rolle spielten. Als es noch nicht einmal ein Ich gab, das sich ausgesetzt und überfordert fühlen konnte. Sie erinnern den Körper an die Zeit im Mutterbauch. Deshalb das Wohlgefühl bei sachtem Schwanken in einer Schiffskoje im nächtlichen Hafen. Oder, in akzeptabler Imitation, im Wasserbett. Oder beim Hören so eintöniger Tracks wie ›Drifting in a calm bay‹, die mit sanftem Glucksen selbst solide stehende Betten zum gefühlten Schaukeln bringen.
    Es gibt Redner, deren monotoner Rhythmus die Zuhörer ebenfalls gefahrlos in den Schlaf wiegt. Das matte Schlingern der Sätze siegt bei ihnen über den unwichtigen Inhalt. Die Zuhörer, selbst die sensibelsten höchstbegabten, schlummern ein. Natürlich mag man so einen Redner nicht extra ins Schlafzimmer einladen. Glücklicherweise gibt es Aufnahmen: die Greatest Hits der effektivsten Schlummerreden.
    Zum Beispiel des begnadeten Fidel Castro. Er war der meist verehrte Tyrann des zwanzigsten Jahrhunderts. Mit gutem Grund: Als einzigem Diktator gelang es ihm, mit seinen Sermonen ein großes Publikum in seiner Gesamtheit einzuschläfern. Seine Predigten waren so etwas wie Schlafdiktate. Am Ende schlummerten selbst die Leibgardisten.
    Es lässt sich nicht verschweigen, dass Fidel oft mehrere Stunden unausgesetzten Sprechens dafür benötigte. Da er seine Reden frei hielt,
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