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Einschlafbuch Fuer Hochbegabte

Einschlafbuch Fuer Hochbegabte

Titel: Einschlafbuch Fuer Hochbegabte
Autoren: Dietmar Bittrich
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später; »im Schlaf scheint jeder Schmerz unterbrochen«. Das wunderte den genauen Naturbeobachter. Im Schlaf gibt es niemanden mehr, der dem Schmerz lauscht. »Es ist die Beflissenheit des Geistes, die den Schmerz erst fühlbar macht«, diagnostizierte Goethe. Und folgerte: »Das Ringen des Verstandes lässt den Schmerz wachsen.« Widerstand verstärkt, sagen die Schlafforscher kurz. Das gedankliche Ankämpfen gegen eine Störquelle steigert ihren Einfluss.
    Doch wie schafft es der sensibel Leidende, sich nicht zu wehren gegen die scheinbare Quelle der Qual? Sie womöglich gewähren zu lassen? Es gibt eine grimmige Selbstbeobachtung des fünfzigjährigen Beethoven, den »das ewige Sausen und Brausen« in seinen Ohren am Einschlafen hinderte. Er wälzte sich, durchwühlte die Kissen, läutete vielstimmige Glöckchen, die das Rauschen vorübergehend stillten, er stopfte sich Wachs in die Gehörgänge, schüttelte den Kopf, bis ihm schwindlig war, er ohrfeigte sich, folterte sich und kämpfte, bis er vor Erschöpfung in Schlaf fiel. Erschöpfung, Schlaf, Schluss mit dem Ohrensausen. Oder jedenfalls Schluss mit der Wahrnehmung des Ohrensausens. Die Aufmerksamkeit war den Geräuschen entzogen.
    Es gibt im Zen ein berühmtes Koan, also eines jener Rätsel, die zum Aushebeln des Verstandes taugen. Es lautet: Wenn im Wald ein Baum umfällt, und niemand ist da, um zu lauschen macht er trotzdem ein Geräusch? Aber sicher!, ist die erste Antwort. Die zweite, nach einigem Grübeln, fällt schwerer. Wenn dem Ohrensausen niemand lauscht, ist es auch für niemanden vorhanden. Wenn der Schmerz nicht in den Bereich der Wahrnehmung gelangt, ist da kein Schmerz.
    James Austin, der sich Zen-Mediziner nennt, hob diese Beobachtung ins Reich der Schlafhilfen. Austin war Schüler des erlauchten Meisters Taisen Deshimaru. Deshimaru wurde im Alter von zahlreichen Krankheiten gebeutelt und war eine leibhaftige Enttäuschung für alle seine Schüler, die gehofft hatten, einem erleuchteten Geist folge notwendig ein gesunder Körper. Nein, so ist es nicht. Und das sei auch gar nicht nötig, teilte Deshimaru mit. »Einen friedlichen Geist kümmert der Körper nicht.«
    Gut, dann her mit dem friedlichen Geist! Bewusstseinsforscher Austin hat ganz konkrete Vorschläge. Sein Meister hatte abstrakt entschieden: Der Körper hat nicht die Kraft, den Frieden zu stören; nur die Gedanken haben die Kraft. Niemals sorgt die Störquelle für die Qual, immer nur der Kampf dagegen. Die Vorstellung, die Störung solle nicht da sein, bedeutet Krieg. Und Krieg hält wach. ZenMediziner Austin übersetzt: Wenn ich nachts wach liege mit dem Gedanken, ich sollte jetzt schlafen, dann wird der Schlaf sich nicht einstellen. Wenn ich hingegen denke: Okay, ich liege wach, und morgen bin ich nicht ausgeschlafen, dann ist es eben so – dann bin ich entspannter, habe sogar Chancen, doch noch einzuschlafen, und falls nicht, werde ich am kommenden Tag jedenfalls nicht so ausgelaugt sein. Und falls doch, dann ist es eben so!
    Schön, verstanden. Doch all das spielt sich auf einer gedanklichen Ebene ab. Es gibt, neben den sinnlichen Varianten von Frida Kahlo oder Maria Montessori, herrliche physische Einschlafhilfen. Kühle Abreibungen, erwärmte Kirschkernkissen, Baldrian, Lavendelduftlampen, Coffea und Valeriana aus der Homöopathie, White Chestnut und Star of Bethlehem aus der Reihe der Bachblüten, die Schüsslersalze 11 und 7. Das ist alles erprobenswert. Doch wer richtig anpacken will, wer wie der großmächtige Orson Welles oder der Krieger Ernst Jünger dem Bruder des Schlafes gern persönlich ins Auge sieht, der wird ein drastisches Mittel bevorzugen.
    Hier ist es: kaltes Wasser. Eiskaltes. Ernst Jünger hatte den Schmerz als Mittel der gesteigerten Empfindung gepriesen. Das war die Philosophie. Das persönliche Leben hatte noch andere Facetten. Wenn die Empfindung allzu sehr gesteigert war, wenn Muskelschmerzen, Arthritis und die Folgen seiner vierzehn Kriegsverletzungen hartnäckig den Schlaf störten, stieg der greise Jünger in eine Badewanne voll kalten Wassers. Mit siebzig, mit achtzig, noch mit neunzig, ja, noch mit hundert Jahren. Im eisigen Wasser drehte er sich ein paarmal, planschte und prustete mächtig und kehrte dann schnatternd zurück ins Bett und zu einem Stapel Wolldecken. Der Kälteschock hatte die Schmerzen gestillt.
    Orson Welles, ohne je von Jünger gehört zu haben, tat dasselbe. Weil seine Leibesfülle selbst größere Hotelpools zum
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