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Einschlafbuch Fuer Hochbegabte

Einschlafbuch Fuer Hochbegabte

Titel: Einschlafbuch Fuer Hochbegabte
Autoren: Dietmar Bittrich
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Achtzehnjährige bei einem Busunfall schwer verletzt worden war, begann sie, im Bett zu malen. Zu Stahlkorsett und Gips verdammt, half ihr die Mutter mit einer selbst konstruierten Staffelei, die Frida im Liegen benutzen konnte. Gemalt hatte sie schon vorher, nebenbei. Nun wurde das Malen ihre Leidenschaft, ihr Kosmos, ihr Trost – und ihr Schlafmittel. Die Konzentration auf die Bildkomposition und der sinnliche Umgang mit den Farben lenkten die Aufmerksamkeit fort von den Schmerzen, hin zu einer fließenden Bewegung. Was zuvor bei Krämpfen und stechenden Qualen unmöglich schien, stellte sich beim Malen nach und nach ein: ein wohliges Körperempfinden, Ruhe, Frieden.
    »Dem Schmerz wird die Kraft genommen«, schrieb sie ihrem späteren Mann Diego Rivera. »Es ist, als folge die Energie der Aufmerksamkeit.« Gute Beobachtung. So ist es tatsächlich. Wenn die Aufmerksamkeit anderswohin gelenkt wird, nicht nur fort vom Schmerz, sondern auch fort von der Beschäftigung mit dem Schmerz, verlieren körperliche Beschwernisse an Kraft und Einfluss. Der Schlaf darf kommen.
    Eine andere kreative Frau, die das bemerkte, war Maria Montessori. Bei ihren medizinischen Studien in der Anatomie war sie zum ersten Mal von Migräne befallen worden; später kehrten heftige Kopfschmerzen immer wieder. Was für Frida Kahlo die Konzentration auf ein Gemälde, wurden für die Pädagogin Montessori die Experimente mit Perlen, Prismen, Kugeln, Würfeln und Zylindern. Sie entwickelte diese Lernmaterialien nicht nur für ein kindliches Entdecken der Welt mit allen Sinnen. Sie beschäftigte sich auch selbst damit. Das Ordnen, Zählen, Aufziehen von Perlen faszinierte sie ein Leben lang. Und es wurde ihre Form von Schäfchenzählen, ihr Mantra, ihr Schlafmittel. Die Energie wanderte fort vom Migräneschmerz und folgte der Aufmerksamkeit zu einem harmonisierenden Spiel.
    Wir wissen, dass John F. Kennedy nachts von Rückenschmerzen gepeinigt wurde und sich spezielle Betten bauen ließ, dass van Gogh unter nächtlichem Ohrensausen litt, dass die Schriftstellerin Mary Shelley aus heiterem Nachthimmel Schmerzattacken bekam, dass Julius Caesar im Bett von Krämpfen heimgesucht wurde, Charles Dickens von Asthma, und dass Goethe gleich nach dem Löschen des Lichtes all die schmerzhaften und beunruhigenden Symptome bemerkte, die der Tag überdeckt hatte. Die Energie folgt der Aufmerksamkeit. Und wenn sich die Aufmerksamkeit in Dunkelheit und Stille von äußeren Gegenständen abkehrt, wendet sie sich den irritierenden Unregelmäßigkeiten im Inneren zu. Dem Stechen hier, dem Ziehen dort, dem beharrlichen Jucken, dem stolpernden Herzschlag, dem Rauschen im Ohr. All das bekommt nun Energie – sofern nicht die Müdigkeit stärker ist und der Schlaf die Beschäftigung mit Schmerz und Leiden löscht.
    Können wir von einer der berühmtesten Frauen des Abendlandes lernen? Aber ja, meint die Autorin und Literaturwissenschaftlerin Pak Kyongni. Als eine der zahlreichen koreanischen Verehrer deutscher Sagen und Mythen hat sie herausgefunden, was wirklich geschah, damals im Schloss hinter den berüchtigten Hecken im Wald. Eine heranwachsende Frau, die an Schmerzen im Unterbauch litt, bekam etwas, worin heute vor allem Koreaner sich auskennen: eine Behandlung mit Handakupunktur. Es war, Pak Kyongni hegt da keine Zweifel, eine Heilerin, die mit einer Nadel in den berühmten Punkt unterhalb des Mittelfingers stach, den A6, dessen Meridian zum Unterbauch führt und obendrein den Schlaf lockt. Die Brüder Grimm haben die Behandlung leider unzulänglich beschrieben. Wir hörten nur: Von einer Spindelspitze gestochen fiel Dornröschen in Heilschlaf. Schmerzen ade, Ende der Leiden.
    Bevor wir das nachzuahmen versuchen – falls wir unsere Spindel gerade verlegt haben, tut es auch eine klassische Akupunkturnadel, den Dornröschen-Punkt A6 finden wir im Web – und bevor wir unnötig lange herumstochern, lohnt sich die Überlegung: Warum eigentlich enden die Schmerzen an der Grenze des Schlafes? Der Körper schläft ja nicht, er macht, leicht gedrosselt, weiter. Also muss er auch Nervenimpulse weiterhin aussenden; der Empfänger allerdings ist ausgeschaltet. Was schlafen geht, ist das Bewusstsein. Und mit dem Schlaf des Bewusstseins, dem Schlaf der Gedanken, weicht die Anspannung. Darin besteht das Heilende.
    »Irgendetwas tut ihm immer weh«, notierte der
    Sekretär Eckermann als Beobachtung an seinem Meister. Doch »immer« stimmte nicht, korrigierte Goethe ihn
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