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Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Titel: Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman
Autoren: Helmut Krausser
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Weder
Kuren noch Massagen halfen.
    Es ging dabei nun wirklich nicht um das, was man eine Behinderung
hätte nennen mögen, aber für die Existenz einer professionellen Tänzerin war es
zweifellos von Bedeutung. Es bedeutete, sie würde bei jedem Anfall für ein,
zwei Sekunden im wahrsten Sinne aus der Rolle fallen. Und das ist im Ballett,
selbst im modernsten Ballett, bei dem das gewöhnliche Publikum weder mitpfeifen
noch den Ablauf sonst irgendwie überprüfen kann, ein doch schwer zu
vertuschender Umstand.
    Janine war mutig an die Öffentlichkeit gegangen, hatte auf ihr
Leiden hingewiesen und um Verständnis gebeten (manche sagten: gebettelt ),
wenn sie, einer solch geringfügigen Beeinträchtigung wegen, nicht gleich
gewillt sei, ihre Karriere aufzugeben.
    Und das Publikum zeigte in überwältigender Mehrheit Verständnis und
Mitgefühl (manche sagten: Mitleid ). Für etwa drei Monate war Janine beinahe ein
Star in Darmstadt gewesen. Selbst Menschen, die mit Ballett rein gar nichts
anfangen konnten, hatten dank der anfangs generösen Berichterstattung lokaler
Medien von ihrem Problem gehört. Janine durchlebte eine glückliche Zeit. Es ging
ja meistens alles gut, und wenn etwas einmal nicht so gut ging, wurde hinterher
um so wilder geklatscht, aus purer Solidarität. Janine fühlte sich auf Händen
getragen. Sie wurde von vielen geliebt, und die, die sie haßten, hielten
zähneknirschend den Mund. Dann traten die Anfälle öfter auf. Und öfter. Janine
tanzte weiter. Der Intendant wagte lange nicht einmal daran zu denken, ihren
Vertrag zu kündigen, aus Angst vor schlechter Presse, aber schließlich war es
jene Presse selbst, die in der Sache Handlungsbedarf sah.
    Wann
ist es genug ? schrieb ein junger Spund, der Skrupellosigkeit
genug besaß, um auszusprechen, was viele nur dachten.
    Man
hat Verständnis für vieles, und der Wert einer Gesellschaft zeigt sich immer
auch darin, wie souverän und taktvoll sie mit ihren Gehandicapten umgeht. Doch
so beklagenswert jedes Schicksal auch ist, das sich der banalen
physischen Fragilität stellen muß – über allem sollte doch immer die Kunst
stehen. Wenn sich ein Künstler den Anforderungen, die die Kunst an ihn stellt, nicht
länger gewachsen zeigt, muß er es seiner künstlerischen Verantwortung wegen als
selbstverständlich geboten erachten, die nötigen Konsequenzen zu ziehen .
    Janine hatte die Konsequenzen gezogen und war nach Berlin gegangen.
    Hier gab es so viele junge Tänzerinnen, die notfalls sogar umsonst
arbeiteten, um eine Chance zu bekommen. Janine würde, selbst wenn ihre Anfälle
jemals verschwänden, hier kaum mehr eine Chance haben; der Konkurrenzdruck war
höllisch. Aber für eine Tanz lehrerin war Berlin ein Garten Eden. Rein materiell
änderte sich für Janine wenig, im Gegenteil, es lebte sich preiswert in der
Hauptstadt, sie mußte sich keine Sorgen machen. An ihrem leichtentzündlichen
Herzen aber nagte der Stachel, etwas Geliebtes aufgegeben, eingetauscht zu
haben, für etwas Verhaßtes. Auch wenn sie als Lehrerin kompetent und einfühlsam
war – im Grunde verabscheute sie es, fremden Menschen etwas beizubringen, zu
dem sie selbst nun nicht mehr taugte. Sie hatte den Beifall geliebt, die
Arbeit, die Scheinwerfer, das Lampenfieber. Jetzt wurde sie mit Bar- und
Schwarzgeld bezahlt und bekam manchmal einen Händedruck dazu. Beides besaß den
Hautgout von etwas Dritt- und Viertbestem.

6
    Johnny rief Swentja in der Mittagspause an, weil er sich
einsam fühlte und die Stimme jenes Mädchens hören wollte, das er mehr als alles
liebte außer Jesus. Nur die Mailbox ging ran, und er legte auf. Es würde noch
ein oder zwei Jahre dauern, dann aber konnte Swentja die wahre Taufe annehmen
und die Mutter seiner Kinder werden, er hatte vor, mit ihr eine Familie zu
gründen. Daß sie noch Jungfrau war, war dafür nicht unbedingt Voraussetzung,
Gott vergibt den Sündern – wem auch sonst? –, es hatte ihm allerdings
imponiert. In einem übermütigen Moment hatte er mal versehentlich das
Geschlecht jenes Mädchens berührt, hatte in ihre Hose gegriffen – er war sehr
betrunken gewesen, ebenso versehentlich, denn er wußte nicht, wie stark Cai
Pirinha wirken kann –, er hatte nur mal kurz ihr Schamhaar befühlen wollen,
aber da kam und kam kein Schamhaar, und plötzlich glitt sein Finger über was
Feuchtes. Das tat ihm jetzt noch von ganzer Seele leid. Er hatte den Finger
gewaschen und immer wieder gewaschen und dazwischen dran gerochen. Viel war in
ihm
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