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Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Titel: Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman
Autoren: Helmut Krausser
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Anblick
insgesamt ekelhaft, die Basketballschuhe aber um einiges schöner als seine
neuen rot-blauen Sneakers.
    »Verzeihung?« Auch er beugte sich nun ein wenig vor und sprach den
jungen Türken, sozusagen auf Augenhöhe, an. »Wollen wir nicht Schuhe tauschen?«
    Der braunhäutige, breitschultrige Kerl warf Stern einen Blick zu,
als sei der verrückt geworden.
    »Hä?«
    »Meine sind ganz neu. Ich trage sie zum ersten Mal! Darauf kann ich
jeden Schwur leisten.«
    »Spinnst du? Interessiert mich nicht.«
    »Ihre Schuhe gefallen mir aber. Das wollte ich Ihnen mitteilen.
Weiterhin will ich Ihnen mitteilen, daß es mir mißfällt, wenn Sie hier vor die
Bank, neben unsre Füße, ein Spuckpfützchen machen. Ein Spuckpfützchen, in das
später Menschen nichtsahnend hineintreten könnten.«
    »Was willste, Alder? Willste Ärger? Oder was? Isch glaub, hab mich
verhört. Oder was?«
    Carla, die bereits ahnte, was daraus werden würde, umarmte ihren
Chef, streichelte seine Stirn. »Laß den Kleinen doch in Ruhe! Der ist ja so
süß. Und die müssen das machen.«
    »Ach, die müssen das machen?«
    »Ja«, sagte Carla und senkte leicht ihre für eine Frau ohnehin schon
tiefe Stimme. »Weißt du, die jungen Schwulen, die sich über ihre sexuelle
Orientierung noch nicht so hundertprozentig im klaren sind, wenn die grad eben
einem ein’ geblasen haben, da bekommen die danach sonen Ekeleffekt, sonen
Würgereiz und müssen noch stundenlang spucken. Das – geht uns nichts an,
Schatz!«
    Ungefähr eine Minute lang herrschte Stille. Dann wendete der braune
Brocken den Kopf.
    »Sach ma, Alder, was hat deine Tuss da gesacht? Was hat die
gesacht?«
    Dr. Stern räusperte sich und verfiel in einen dozierenden Tonfall.
    »Meine Tusse – es heißt Tusse oder Tussi, nicht Tuss – hat mir
gerade erklärt, daß die jungen Schwulen, die sich über ihre sexuelle
Orientierung noch nicht so hundertprozentig im klaren sind, daß die, wenn sie
grad eben einem einen geblasen haben, danach unter sonem Ekeleffekt leiden,
soner Art Würgereiz, und deshalb noch stundenlang spucken müssen.«
    »Hey, sachma, spinnt die? Fickst du die nicht richtig?«
    »Ich gebe mir alle Mühe, aber im Moment findet sie ja eher dich süß.«
    »Ey, wollt ihr beide aufs Maul?«
    »Wollen wir beide Wasauchimmer auf den Mund? Carla, was meinst du?«
    »Nö«, meinte Carla, »kommt ja gleich der Zuch. Aber wenn du möchtest …«
    »Wenn du nicht willst, Schatz, laß ich es auch.«
    »Ihr beiden habt ja die volle Meise, Mann! Sach der Fotze, daß sie
sich entschuldigen tut, sonst polier ich euch die Fresse!« Der Junge war
aufgestanden und hatte eine Stellung eingenommen, die man unter Imponiergehabe
einordnen konnte.
    Stern lächelte. Carla liebte derlei abgefahrene Späße, und wehe,
wenn Stern nicht mitspielte. Er war gut zehn Jahre älter als Carla und stets
bestrebt, bella figura vor ihr zu machen. Eben rollte die Trambahn in die
Station. Beide standen auf und grinsten den jungen Türken an.
    »Um sich entschuldigen tun zu müssen«, sagte Stern, »täten wir gern
mehr Grund haben wollen.« Der Junge schlug zu. Stern wich geschickt aus, den
Rest erledigte Carla. Sie war amtierende Berliner Kickbox-Vize-Landesmeisterin,
Stern hingegen ziemlich unsportlich.
    Der Türke blutete danach aus der Nase, einige Tropfen landeten auf
seinen weißen Schuhen.
    »Jetzt will ich die nicht mehr haben«, kommentierte Stern das
Vorgefallene mit enormem Bedauern in der Stimme. »Würden Sie stattdessen meine
rot-blauen tragen, würde das Blut gar nicht sehr auffallen. Ich hoffe, daß Sie
mir in diesem Punkt zustimmen können.«
    »Ihr Arschlöcher! Ihr habt sie doch nicht alle! Ich werd euch
ficken, ihr werdets noch sehen! Ich töte eure Kinder!«
    Aber während der junge Mann wütend und laut all diese Drohungen
ausstieß, hielt er doch schön Abstand und stieg nicht in dasselbe Abteil wie
die so von ihm Bedrohten. Stern seufzte erleichtert. Er hatte sich mal wieder
bewährt, hatte für Spaß gesorgt, und Carla würde ihn nachher im Büro ranlassen,
daran bestand so gut wie kein Zweifel mehr.
    Aber die rot-blauen Sneakers, nein, darüber würden sie am Abend noch
mal sprechen müssen.

4
    13:30
    Swentja fühlte sich derart interessant, daß sie beschloß,
sofort all ihren Freundinnen zu erzählen, was ihr grad eben, vor kaum zwanzig
Minuten, passiert war. Während sie im Coffeehouse an der Friedrichstraße saß,
Latte Macchiato schlürfte und laut in ihr Handy hinein erzählte, so
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