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Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Titel: Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman
Autoren: Helmut Krausser
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nie für lange. Nach dem Erwachen stellte er mit einem
Blick auf die Armbanduhr fest, daß er sein Ziel binnen gut zwanzig Minuten
erreicht haben würde – und daß seine Sneakers weg waren.
    Er sah sich um, bückte sich, senkte den Kopf hinab, sah in die
Winkel – nein, seine Schuhe blieben unauffindbar. Das Großraumabteil war
beinahe leer, bis auf drei ältere Damen an einem Vierertisch, einen jungen Bundeswehrsoldaten
in Camouflage und eine in Zeitschriften blätternde Frau, knapp dreißig. Zu ihr
mochte der beständig auf und ab laufende Junge gehören, ein blondes, etwa fünf
Jahre altes Beispiel für hyperaktiven Furor, oder das, was man einst mit
Zappeligkeit umschrieben hätte.
    Als der Kleine das nächste Mal schreiend und unter größtmöglichem
Getrampel den Waggon heruntergerannt kam, hielt Stern ihn auf, mit der flachen
Hand gegen die Brust.
    »Häää?« Der Wicht wirkte sehr erstaunt und tat sofort beleidigt.
    »Rück die Schuhe raus!«
    »Ich hab Ihre Schuhe nich …«
    »Aber du weißt, daß es um meine Schuhe geht?«
    »Häää?«
    »Hallo? Darf ich fragen, warum Sie mein Kind anfassen und
rütteln? Gehts Ihnen noch gut?«
    Die hochgewachsene, ziemlich magere Frau war prompt aufgestanden und
ihrem Sprößling zu Hilfe geeilt. Aus ihrem rostbraunen Haar leuchteten rote
Strähnen, das sah ganz unmöglich aus, außerdem trug sie formlose bunte
Ethno-Klamotten, Sandalen, einen langen Rock und drüber eine Art Poncho mit
aufgenähten Pailletten. Ihre Zehennägel waren lindgrün lackiert – dennoch
unternahm Dr. Stern den Versuch einer vernünftigen Kommunikation.
    »Nein, mir geht es grad nicht gut, meine Schuhe sind weg. Und Ihr Söhnchen hat
sie versteckt, was sicher für den Moment sehr lustig ist, aber bald nicht mehr,
da muß ich nämlich aussteigen.«
    »Florian, hast du die Schuhe des Herrn hier versteckt?«
    »Nein, hab ich niiich …«
    »Er lügt.«
    »Sie können es ja nicht wissen, aber: Mein Kind lügt nicht.«
    »Nur zurückgebliebene Kinder lügen nicht. Daß er stiehlt, halten Sie
aber für möglich?«
    Die Frau sah Stern verunsichert an, sie verstand die Frage nicht
sofort. »Nein, ich habe ihn nur aus Höflichkeit Ihnen gegenüber gefragt. Und
jetzt ists gut! Lassen Sie ihn in Ruhe bitte.«
    »Aber wer soll denn sonst meine Schuhe genommen haben?«
    »Was sollte er mit Ihren Schuhen anfangen, sie wären ihm ja viel zu
groß.«
    »Was ist bitte das für eine dumme Frage? Natürlich nimmt er sie sich
nicht, weil sie ihm passen könnten, er klaut sie aus Jux und Dollerei.«
    »Ach so? Und nur Kinder machen irgendwas aus Jux und Dollerei, ja?«
    Es waren weder neue noch teure Schuhe, aber äußerst
bequeme Sneakers, die Stern peripher am Herzen lagen. Er nahm sich den Kleinen
noch mal vor und packte ihn an seinen Hemdsärmeln.
    »So, jetzt sagst du, wo die Schuhe sind, sonst setzt es was.«
    »Wagen Sie es bloß nicht, meinen Sohn noch einmal anzufassen!«
    »Blöder Depp!« kreischte der Sohn und riß sich los.
    Stern wurde es zu bunt. Er kramte sein Handy hervor und
rief Carla an.
    »Kannst du mich bitte am Bahnhof abholen? Paß auf, geh
vorher in ein Schuhgeschäft und kauf mir ein Paar Turnschuhe, Größe 45,
möglichst billig, mir wurden meine soeben geklaut. Ja, geklaut. Ich weiß auch
nicht, wozu. Mir sind die Schuhe geklaut worden, von einem Arschloch-Kind, das
zu viele Gene seiner Vollidioten-Mutter mitbekommen hat. Ich bin in Wagen 23,
du kannst am Wagenstandsanzeiger genau feststellen, wo ich aussteige. Ich bin
auf Socken unterwegs und hab keine Lust, auf einem kalten Bahnsteig rumzustehn.
Ja, nein, ich wollte nicht unterstellen, daß du nicht weißt, was ein
Wagenstandsanzeiger ist.«
    »Haben Sie mich gerade eine Vollidioten-Mutter genannt?«
    »Wer redet denn mit Ihnen? Nein, ich meine nicht dich, Carla, ich
glaub, jetzt werd ich auch noch bedroht. Ja, im Ernst. Vor mir steht die mit
der Erziehung ihres debilen Jungen überforderte Mutti und hebt ihre häßliche
Handtasche. Ja, ehrlich. Au! Haben Sie sie nicht mehr alle?«
    Stern entstieg auf Socken dem Zug, und Carla ließ sich
    Zeit. Sie hatte Sneakers der Größe 45 zwar gleich gefunden, war aber mal mit
dem Design, mal mit dem Preis unzufrieden, hatte sich dann nicht entscheiden
können und kam nun fünfzehn Minuten zu spät aufs Gleis, wo Stern auf einer
stählernen Bank im Schneidersitz saß und ihr seine Schläfenschramme zeigte.
    »Die hat mir ihre schwere Tasche gegen den Kopf
geschlagen. Tot hätt ich sein
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