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Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Titel: Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman
Autoren: Helmut Krausser
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Pediküre, Massagen und kleinere kosmetische
Hautbehandlungen. Am Abend zuvor jedoch bereiteten sie, das einzige Mal im
ganzen Jahr, gemeinsam ihr Abendessen zu. Sushi. Sie kochten den Reis, breiteten
die Algenmatten aus, strichen den abgekühlten Reis auf, zerteilten den rohen
Fisch und das blanchierte Gemüse in mundgerechte Stücke und rollten aus alledem
halbmeterlange Zylinder, die sie dann mit sündteuren und angsterregend scharfen
japanischen Messern exakt portionierten. Dies nahm Zeit in Anspruch, sollte das
Ergebnis optisch befriedigend ausfallen. Eine Arbeit, die immer Spaß gemacht
und deren Ertrag meist auch geschmeckt hatte. An diesem Abend war irgend etwas
anders. Uwe bemerkte es zuerst, ohne gleich sagen zu können, woran es genau
lag. Julia stand mit einem jener angsterregend scharfen japanischen Messer vor
dem Küchentisch, und statt Fisch und sonstiges Meeresgetier mit gezielten
Schnitten in eine ästhetische Form zu bringen, stierte sie ins Leere und
naschte eines jener Gurkenstückchen, die zuvor Uwe in eine ästhetische Form
gebracht hatte.
    »Denkst du über was nach?«
    »Ja.«
    »Was denn?«
    »Wir müssen uns trennen.«
    »Was?«
    »Trennen. Wir. Uns.«
    Julia sagte diese Worte ohne sichtliche Erregung. Uwe glaubte an
einen Scherz, oder an einen jener regelmäßig einmal pro Monat stattfindenden
hysterischen Schübe, aber es war grade nicht soweit, und Julia wirkte alles
andere als hysterisch.
    »Warum sagst du so etwas?«
    Julia gönnte ihm einen kurzen Blick, sah dann zur Decke und zuckte
mit den Schultern. »Ich habe mich eben gefragt, wie ich mich besser fühlen
könnte, als ich mich fühle. Und das Ergebnis war, daß ich mich besser fühlen
würde, wenn du nicht hier wärst.«
    »Es ist Heiligabend, Schatz, da sollte man so etwas nicht sagen.«
Uwe tat beleidigt, er hoffte insgeheim, die Angelegenheit würde sich bald von
selbst erledigen, wenn er einfach schwieg und weiter Reis auf Algenmatten
strich.
    »Du tätest mir einen Gefallen, wenn du jetzt gehen würdest.«
    »Wie bitte?«
    »Wenn du gehen würdest. Nimm dir ein Hotelzimmer, geh von mir aus in
den Puff, es gibt in Berlin bestimmt Puffs, die an Heiligabend aufhaben, nicht?
Mach dir eine schöne Zeit.«
    »Was wirfst du mir denn vor?«
    »Ich werfe dir doch gar nichts vor. Wir können künftig zueinander
ganz nett sein. Wenn du jetzt gehst.«
    »Und wenn ich das nicht tue?« Uwe König sah seine Frau an und
begriff mit jeder Sekunde etwas deutlicher, daß Julia es ernst meinte. Warum
sie sich, wollte er wissen, ausgerechnet diesen Abend ausgesucht habe, um so
ein Theater mit ihm anzustellen.
    »Welcher Abend wäre denn besser geeignet?« Julia stand da, mit einem
sonderbar eingefrorenen Lächeln, starrte auf den toten Fisch, hielt das Messer
in der Hand, und vielleicht war es wirklich jener zigfach gefaltete Stahl
gewesen, der sie auf den Gedanken gebracht hatte, ein Schnitt sei zu machen.
Und der tote Fisch – Julia hätte selbst nicht sagen können, was da
zusammengekommen war, aber sie hatte, endlich, was ihr schon seit Wochen auf
der Seele lag, über die Zunge gebracht, sie fühlte sich wohl und leicht, ihre
Haut schien zu prickeln, etwas war neu und anders. Besser. Sie hätte ihren
Seelenzustand vage mit einer sonderbaren Ergriffenheit umschreiben können, wie
sie Menschen manchmal in der Kirche oder in der Oper empfinden.
    Uwe nahm Mantel und Schal und ging mit weiten, aufstampfenden
Schritten zur Tür, ohne jeden weiteren Kommentar, wie um seine Frau für ihre
grobe Unhöflichkeit zu bestrafen. Als er auf der Straße stand, immer noch etwas
benommen, dachte er lange und ernsthaft darüber nach, Julias Rat zu befolgen
und sich vom nächsten Taxifahrer zu einer einschlägigen Adresse kutschieren zu
lassen. Stattdessen spazierte er ziellos durch Nacht und Schneeregen, mietete
in einem Hotel am Kudamm ein Zimmer, trank die Minibar leer und stierte
stundenlang auf sein Handy, in der Hoffnung, eine SMS würde die Situation entscheidend verändern. Gegen fünf Uhr morgens schlief er
schwer betrunken ein.

MAI

1
    DONNERSTAG GEGEN MITTAG
    Auf etwas längeren Zugfahrten wie der von Berlin nach
Bielefeld, wenn er vorher viel zu Fuß unterwegs gewesen war, zog Dr. Stern gern
seine Schuhe aus, da er bevorzugt Turnschuhe trug und zu Schweißfüßen neigte.
Es war nicht schlimm, er mußte sich nicht vor peinlichen Situationen fürchten,
dennoch nutzte er die Zeit im Zug, um seine Socken ein wenig zu lüften.
Nebenher döste er weg,
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